Wie reaktiviert man leerstehende, sanierungsbedürftige Wohngebäude?
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29 April 2021Online-Abschlussveranstaltung des URBACT-Netzwerks ALT/BAU
In vielen europäischen historischen Stadtzentren gibt es aufgrund des demografischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandels immer mehr leerstehende und sanierungsbedürftige Gebäude. Das URBACT Transfer-Netzwerk ALT/BAU (Alternative Building Activation Units) hat es sich zur Aufgabe gemacht, alternative Konzepte für verfallende Wohnungsbestände zu erstellen. Dabei hat die Lead-Partner-Stadt Chemnitz ihre guten Erfahrungen, die sie mit der Agentur StadtWohnen in diesem Bereich gemacht hat, an die anderen europäischen Partnerstädte im Netzwerk weitergegeben. Durch das Vernetzen der Verwaltung mit Eigentümer:innen, Investierenden und Nutzenden erreichte Chemnitz eine nachhaltige und ressourcenschonende Entwicklung dieser Gebäude. Nach zweieinhalb Jahren gemeinsamer Arbeit hielt ALT/BAU am 19. April 2021 seine Abschlussveranstaltung ab. Wir geben einen Einblick in die Ergebnisse der Netzwerkarbeit.
Wieso sollte man leerstehende und sanierungsfällige Gebäude überhaupt renovieren und sie nicht einfach abreißen und neue Häuser bauen? Die Gründe dafür sind vielfältig, hier sind nur einige genannt: So stiften die Bauten oft eine gewisse kulturelle Identität, die durch Verfall oder Abriss zerstört würde. Außerdem ist es nachhaltiger, alte Gebäude zu renovieren und auch der Wert der Gebäude steigt durch eine Sanierung wieder. Es lohnt sich also für eine Stadt, zu handeln und die Reaktivierung und Umnutzung von leerstehenden Gebäuden für ihre nachhaltige Stadtentwicklung zu nutzen, wie es die Agentur StadtWohnen in Chemnitz getan hat. Sie dient als Vorlage für den ALT/BAU-Ansatz, bei dem es darum geht, sich für die Reaktivierung von leerstehenden oder sanierungsbedürftigen Wohnungen zu engagieren. Dies geschieht durch die Einrichtung einer „Unit“, also einer Abteilung, die dafür zuständig ist und kostenlose Beratungsleistungen anbietet. Der Ansatz wurde in der Veranstaltung mit verschiedenen Themenblöcken detailliert ins Visier genommen.
Bestandsaufnahme und Beobachtung von leerstehenden Gebäuden
Als ersten Schritt schlägt das Netzwerk vor, eine Bestandsaufnahme der bestehenden leeren Häuser und ihres Zustands zu machen. Bénédicte Borckmans von der kommunalen Agentur ERIGES der Stadt Seraing in Belgien schilderte, wie das mit „Feldbesuchen“ gelang: Eine Mitarbeiterin suchte bei einem Rundgang durch die Stadt nach leerstehenden Gebäuden und dokumentierte diese. „Es ist nicht immer einfach herauszufinden, ob die Häuser wirklich leer stehen, oder ob sie nur selten genutzt werden. Hilfreich ist es dann, verschiedene Daten zu vergleichen: Melderegister, Wasser- und Stromverbrauch oder Adressen ohne Abfallentsorgung“, erklärte Bénédicte Borckmans. Um solche Daten zu verwalten, können geographische Informationssysteme wie das Programm GIS hilfreich sein. Dies zeigte die Stadt Constanţa in Rumänien auf: Die Altstadt von Constanţa steht vor dem Problem des Verfalls, da die Eigentumsverhältnisse oft ungeklärt sind und so wenig Spielraum für Interventionen lassen.
Klassifikationskriterien bei der Bestandsaufnahme © Präsentation Bénédicte Borckmans, ERIGES
Aktivierung und Betreuung von Eigentümer:innen
Um Eigentümer:innen zu aktivieren, müssen sie als erstes identifiziert werden. Martin Neubert von der Agentur StadtWohnen in Chemnitz kommentiert das Vorgehen: „Das ist oft richtige Detektivarbeit: Wir versuchen auf verschiedenen Wegen, den Eigentümer zu finden, das kann auch über Facebook oder über ein Gespräch mit einem Nachbarn gelingen.“ Anschließend stehe man vor der Herausforderung, die Eigentümer:innen zu einer Renovierung zu motivieren. Für eine optimale Beratung ist es dabei entscheidend, die Gründe für den Leerstand zu verstehen und die Interessen der Eigentümer:innen zu beachten. Die Agentur StadtWohnen hat dafür ein Erfahrungsschema erstellt, nachdem sie die verschiedenen Typen der Eigentümer:innen kategorisieren, um ihre Bedürfnisse zu erkennen.
Typologien von Eigentümer:innen © Präsentation Martin Neubert, Agentur StadtWohnen
Aktivierung und Unterstützung von potenziellen Käufern und Investoren
Oftmals haben Kommunen nicht die passenden Instrumente oder ausreichende Mittel, um die Gebäude selbst bzw. über Förderprogramme zu sanieren. Daher sind Investierende, die bereit sind, ihr Geld im Interesse städtebaulicher Ziele in diese Gebäude zu stecken, wichtige Akteur:innen bei der Reaktivierung von leerstehenden Gebäuden. Da diese oft nicht einfach zu finden sind, hat Riga den Ansatz der Zwischennutzung für sich entdeckt. Gebäude, die aufgrund ihres Zustandes schwer zu verkaufen sind, werden Kulturinitiativen für einen gewissen Zeitraum zur Verfügung gestellt. Das Gebäude wird so instandgehalten und durch die Initiativen zu einem interessanten Ort für die Gemeinschaft.
Beispiel einer Umgestaltung zur Zwischennutzug in Talin © Präsentation Marcis Rubenis, Free Riga
Vernetzung und Koordination von öffentlichen und privaten Akteur:innen
Nicht nur Eigentümer:innen und Investierende sind für die Reaktivierung leerstehender Gebäude relevant – auch andere öffentliche und private Institutionen sind in den Prozess eingebunden. Für einen effizienten und zielgerichtet Ablauf ist es Ziel der „Unit“, diese Akteur:innen zu informieren, einzubinden und zu koordinieren. Die Stadt Turin in Italien stellte hierfür eine gutes Modell vor: Das Torino Urban Lab ist ein Ort, an dem sich verschiedene Interessenvertreter:innen und Bürger:innen über aktuelle stadtpolitische Projekte informieren, darüber diskutieren und eigene Vorschläge einbringen können. Eine digitale Plattform mit Daten zu den Projekten ergänzt das Angebot. Ihr Ziel ist es, eine gemeinsame Basis für die Bewertung und Diskussion möglicher wohnungspolitischer Maßnahmen und Projekte zusammen mit ausgewählten Interessengruppen zu schaffen.
Torino Urban Lab, © Präsentation Giulietta Fassino, Torino Urban Lab
Mehr als 55 Personen nahmen an dem Abschlussevent des ALT/BAU Netzwerks teil, das einen detaillierten Überblick über die verschiedenen Schritte im Prozess der Reaktivierung von leerstehenden und sanierungsfälligen Häusern gab. Es wurde außerdem deutlich, wie die anderen Partnerstädte des Netzwerks das gute Beispiel auf ihren eigenen Kontext anwendeten. Obwohl die Netzwerkarbeit durch die Pandemie erschwert wurde, konnten sie im Zuge dessen Transformationsprozesse beschleunigen, beispielsweise von Innenstadtnutzungen. Dadurch hat das Thema Leerstand wieder neue Relevanz bekommen und wird auch für den weiteren Austausch im Rahmen von URBACT wichtig bleiben.
Das Guidebook des Transfernetzwerkes, sowie die Zusammenstellung der guten Beispiele sind online verfügbar.
Titelbild © Präsentation Frank Feuerbach und Martin Neubert
Artikel von Lilian Krischer.
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