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Schlafende Riesen wecken? Die Mission des URBACT-Netzwerkes „Second Chance“

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12 April 2016
Read time: 3 minutes

Von Ivan Tosic. Wenn Besucher durch das extrem dicht bebaute Montesanto-Viertel in Neapel gehen, sind sie oft geschockt von den engen Straßen, in denen man sich zwischen den fahrenden und parkenden Autos und Rollern kaum bewegen kann. Es gibt nicht nur keine Bäume und Grünflächen, sondern es fehlen generell offene Räume. Durchquert man allerdings ein Tor, das viele Jahre lang geschlossen war, so kommt man in einen großen Innenhof. Das ist das ehemalige Kapuziner-Kloster, ein enormer Gebäudekomplex mit 5.300 Quadratmetern Grundfläche und drei Geschossen, das zuletzt als Jugendhaftanstalt genutzt wurde. Nachdem das Gebäude danach jahrelang leer stand, übergab der Staat es an die Kommune. Dieses ehemalige Kloster ist ein typisches Beispiel für einen „schlafenden Riesen“.

Neapel, Montesanto

In den Diskussionen über nachhaltige Stadtentwicklung spielt die Idee der kompakten Stadt eine wichtige Rolle: Credo ist es, neue Vorhaben innerhalb der bestehenden Stadtgrenzen entwickeln, um den Flächenverbrauch einzudämmen. Dafür können zum Beispiel leerstehende Gebäude genutzt werden. Mit dieser Thematik beschäftigt sich das URBACT-Netzwerk „Second Chance“. Im Fokus der Partner steht die Reaktivierung großer leerstehender Gebäude, Gebäudekomplexe oder von Gebieten mit vielen leerstehenden Gebäuden, die ihre ursprüngliche Funktion verloren haben und nun vor dem Verfall stehen.

Diese „schlafenden Riesen“ sind ein Problem für die Stadt oder den Eigentümer. Gleichzeitig offerieren solche Gebäude eine einzigartige Chance für die nachhaltige Stadtentwicklung. Denn sie bieten Raum für eine Vielzahl von sozialen, wirtschaftlichen, ökologischen oder kulturellen Nutzungen, die ihren Platz in der Stadt noch nicht gefunden haben. Das Second-Chance-Netzwerk möchte solche Gebäude reaktivieren und die Nachnutzung in den Kontext der jeweiligen Nachbarschaft und der Gesamtstadt einbetten. Dabei sollen die Interessen der Eigentümer mit dem öffentlichen Interesse bzw. den strategischen Zielen der Kommune überein gebracht werden. Dabei setzt sich das Second-Chance-Netzwerk vor allem mit den folgenden Schwerpunkten auseinander: Nachnutzung, Machbarkeitsstudien, Einbezug verschiedener Akteure, Entwicklung von Strategien und Instrumenten für die Reaktivierung von Eigentum. Jede Netzwerkstadt hat dafür ein „Pilot-Gebäude“ definiert. Drei Städte sollen hier mit ihrem Fallbeispiel näher vorgestellt werden:

Museumsquartier Budapest: Nachnutzung anstelle von Neubau auf der grünen Wiese

BudapestEines der „heißen Themen“ in Budapest ist die Entwicklung des neuen Museumsquartiers. Die Idee kommt von der Zentralregierung, die einen neuen Museumskomplex im größten Park von Budapest errichten möchte, dem „Városliget“. Diese Idee stieß auf heftigen Widerspruch von Seiten der Architekten, Stadtplaner und der meisten Bürger. Eines der wichtigsten Gegenargumente ist, dass es in ganz Budapest viele leerstehende, verfallende Gebäude gibt. Diese könnten leicht zu Museen umgestaltet werden, anstatt alle neuen Museen auf einer Grünfläche der Stadt zu konzentrieren. Die urbanen Effekte eines solchen „Museums-Entwicklungsprogramms“ hätten mehr Auswirkung, da die neuen Museen die „schlafenden Giganten“ wecken und gleichzeitig auch die jeweilige Umgebung aufwerten könnten.

 

Europaviertel Brüssel: Öffentliches Interesse statt marktwirtschaftliche Nutzung

Im Europaviertel von Brüssel stehen elf Prozent der Bürogebäude leer. Die gewöhnliche, marktorientierte Entwicklung dieser Gebäude bestünde darin, neue Büros zu schaffen. Das würde die einseitige Nutzung des Gebietes mit Verwaltungs- und Bürogebäuden allerdings weiter verstärken.

Im Zentrum der Brüsseler Fallstudie steht ein heruntergekommenes Bürogebäude aus den 1960er Jahren, das seit 2004 leer steht. Das Haus gehört der staatlichen Baubehörde. Diese möchte es verkaufen, weil das Gebäude mit seinen zu niedrigen Deckenhöhen den heutigen Bürostandards nicht mehr entspricht. Die Stadt Brüssel dagegen möchte das Gebäude sanieren und schlägt eine Mischnutzung vor, die auch dazu beitragen kann, das Europaviertel attraktiver zu machen. Zunächst sollen innovative Zwischennutzungen für die Anwohner, die täglichen Nutzer und die Besucher des Europaviertels gefunden werden. Langfristig soll das Gebäude soziale, wirtschaftliche und kulturelle Funktionen erfüllen und die Anwohner einbeziehen. So würde das öffentliche Interesse das Schicksal des Gebäudekomplexes bestimmen und nicht der Markt bzw. das Kapital.

Gemeinschaftsgüter in Neapel: Hausbesetzer-Szene in Nachnutzung einbeziehen

Der Lead Partner des Second-Chance-Netzwerkes ist die süditalienische Stadt Neapel. Das Problem der großen leerstehenden Gebäude wurde dort um die Jahrtausendwende akut, als der italienische Staat viele seiner großen Gebäudekomplexe an die Kommunen übergab. Deren Haushalte waren jedoch stark von der Krise in Mitleidenschaft gezogen worden, was die Sanierung der Bestände noch schwieriger machte. In Folge dessen wurden viele dieser verlassenen Häuser von Gruppen junger Leute besetzt, die sie für sozio-kulturelle Zwecke nutzten. Die Stadtverwaltung erkannte schnell, dass es nicht der richtige Weg war, die Hausbesetzer als illegal zu brandmarken und sie zu vertreiben. Eine bessere Strategie schien es zu sein, die Gruppen bei ihren sozialen und ökologischen Anliegen zu unterstützen, die ja auch der gesamten Nachbarschaft zu Gute kamen.

Neapel, besetztes Haus

Deshalb wurde die Gesetzgebung in Neapel seit 2010 Schritt für Schritt angepasst. Die neuen Regelungen erlauben es, dass organisierte Gruppen von Bürgern große leere Gebäude „adoptieren“, um dort innovative Nutzungen und Verwaltungsstrategien auszuprobieren. Dafür führte die Stadt unter anderem die Kategorie der „Gemeinschaftsgüter“ in ihre Statuten ein, unter die nun viele der Gebäudekomplexe fallen. Der Grundgedanke ist, dass große leerstehende Gebäude in Neapel als Chancen angesehen werden, um einen neuen Prozess der Stadterneuerung anzustoßen. Ihre Reaktivierung bzw. Sanierung orientiert sich an den Bedürfnissen von Anwohnern und Nachbarn: Im Zentrum stehen Anliegen wie bezahlbares Wohnen, sozio-kulturelle Angebote, Raum für Start-up Firmen oder kulturelle Aktivitäten. Auch das eingangs erwähnte Kapuziner-Kloster wurde von einer solchen Gruppe besetzt, die die Anwohner nun auf die Chancen des Gebäudes für das ganze Quartier aufmerksam machen möchte.

Der Fall aus Neapel ist sehr interessant, weil die Verwaltung mit innovativen Regel-Anpassungen auf eine Situation reagiert hat, die mit den bestehenden Richtlinien nicht mehr abgedeckt werden konnte. Auf den ersten Blick scheinen die „schlafenden Riesen“ also ein großes Problem zu sein. Die Städte des Second-Chance-Netzwerks zeigen jedoch in ihren Pilotvorhaben, dass diese Riesen große Möglichkeiten bieten, wenn aktive Anstrengungen der Anwohner und innovative Antworten der Stadtverwaltungen zusammenfallen. So können neue Optionen entstehen, von denen beide profitieren: Die Bürger und die öffentliche Hand.

Dies ist die gekürzte Übersetzung eines englischen Artikels von Ivan Tosic. Die Originalversion finden Sie hier.

Copyright Fotos: Ivan Tosics und Second-Chance-Netzwerk

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