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Planen für Menschen, nicht für Fahrzeuge – wie urbane Mobilität ein integrierter Teil unserer Stadtentwicklung wird

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03 January 2019
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Vorm Start des diesjährigen URBACT City Festivals in Lissabon saß ich an der Uferpromenade am Praça do Comércio, beobachtete vorbeiziehende Fußgänger und Boote und genoss die Atmosphäre. Ein paar Gehminuten weiter entdeckte ich die wunderschöne Gegend rund um den Largo Corpo Santo und Porta do Mar. Es überraschte mich, als ich später in einem der Workshops im Rahmen des Festivals erfuhr, dass ich nur wenige Jahre zuvor die urbanen Räume Lissabons noch völlig anders wahrgenommen hätte. Wo sich heute Menschen begegnen und verweilen, parkten früher Autos – von einer charmanten Atmosphäre keine Spur! Was also ist passiert in den letzten Jahren? fragt Claus Köllinger.

Planerisches Umdenken – oder „das Verschwinden der Autos“

Lissabon erlebt einen Paradigmenwechsel in der Nutzung urbaner und öffentlicher Räume. Sie werden nicht mehr im großen Stil als potentielle Nutzflächen für PKW wahrgenommen. Stattdessen wird öffentlicher Raum als Gut für verschiedenste Nutzungen gesehen und gestaltet, samt einem stärkeren Fokus auf nachhaltige Mobilitätsformen.

„Die Autos verschwinden“, erklärte Professor Tiago Farias beim Workshop zur städtischen Mobilitätsplanung und die Erfahrungen aus Lissabon geben ihm Recht. Die portugiesische Hauptstadt ist nicht die einzige Metropole, die den Verkehr zu Gunsten einer lebenswerteren Stadt zurück drängt. Immer mehr Städte in Europa verabschieden sich von der Idee, dem steigenden Individualverkehrsaufkommen planerisch entgegenzukommen und ihm mehr Raum zuzugestehen. Stattdessen rücken die wirklichen Interessen der Stadt und ihrer Bewohnerinnen und Bewohner vermehrt in den Mittelpunkt der Planung zugunsten eines Paradigmenwechsels in der Art und Weise, wie eine Stadt ihr zukünftiges Verkehrssystem gestaltet.

Für die Menschen und mit den Menschen planen

Die Idee, den Menschen in das Zentrum der städtischen Mobilitätsplanung zu stellen, entwickelte sich EU-weit mit dem Konzept der nachhaltigen urbanen Mobilitätspläne (SUMP = Sustainable Urban Mobility Plans) im Laufe der letzten zehn Jahre. Heute stellen die SUMPs dank ihres integrierten Planungsansatzes urbaner Mobilitätsentwicklung eine Erfolgsgeschichte dar, die mit einer ganzen Reihe von Innovationen die Verkehrsplanung bereichert. Zum Beispiel betonen SUMPs universelle Erreichbarkeit und Barrierefreiheit sowie urbane Lebensqualität und die Unterstützung sauberer Transportmöglichkeiten. Sie sehen Mobilität im Kontext der Gesamtstruktur einer Stadt und beziehen daher vielfältige Facetten der Stadtentwicklung und der städtischen Entwicklungsziele mit ein. Zudem machen sie nicht an den Stadtgrenzen halt, sondern betrachten Pendlerströme und interkommunale Zusammenhänge. Kurzum berücksichtigen SUMPs jedwede Mobilität von Menschen und Gütern und bedienen sich so einem integrierten Planungsansatz, der Bürgerinnen und Bürger und alle betroffenen Stakeholder einbezieht und damit wirklich mit den Menschen und für die Menschen plant.

Vor diesem Hintergrund kann man SUMPs gut und gerne als Quantensprung in der Verkehrsplanung bezeichnen. Dass dieser gelingen konnte und dass die komplexen Dynamiken von gesellschaftlichem, wirtschaftlichem und technologischem Wandel zugleich Berücksichtigung finden können, liegt vor allem an einem gut strukturierten Planungsprozess. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass er den Status-quo umfassend identifiziert und ihn mit bestehenden und zukünftigen Herausforderungen in Verbindung setzt. Nur so kann eine übergeordnete planerische Vision entstehen, zu der dann passende Maßnahmen und Umsetzungen gesetzt werden können. Ein SUMP detailliert auch benötigte bzw. vorhandene Ressourcen, Zuständigkeiten, Umsetzungsabläufe sowie Monitoring- und Evaluierungsschritte. Das macht die nachhaltigen urbanen Mobilitätspläne zur Blaupause für eine ganzheitliche Strategie der städtischen Verkehrsentwicklung. Schlussendlich stellt sich nun aber die Frage, wie die Theorie in die Praxis umgesetzt wird; wie können wir die Idee der SUMPs in unser tägliches Leben in der Stadt integrieren? 

Viele Wege führen nach Rom

Diese Frage machte sich das URBACT Projekt CityMobilNet zu Eigen. Dabei wurde schnell klar, dass es nicht die eine Lösung für alle elf Netzwerkpartner mit ihren verschiedenen Hintergründen und Rahmenbedingungen gibt. Einige der Partner waren bereits erfahren im Umgang mit SUMPs, für andere waren sie absolutes Neuland. Einige Partner waren Kleinstädte mit 15.000 Einwohnerinnen und Einwohnern, während in anderen mehr als eine halben Millionen Menschen lebten. Die gelebte Mobilitätskultur der Partner variierte stark von klassischen Autostädten über einen Fokus im Bereich des Öffentlichen Verkehrs bis hin zu hohen Anteilen des Fuß- und Radverkehrs am städtischen Verkehrsaufkommen. Hinzu kamen noch höchst unterschiedliche Planungskulturen, von sehr zentralisierte Planungsansätze bis hin zu umfangreichen Beteiligungsstrategien. Dementsprechend musste jeder Projektpartner das SUMP-Konzept an die eigenen Bedingungen anpassen, um einen nachhaltigen urbanen Mobilitätsplan zu erarbeiten.

Wo fangen wir an?

Als essentiell stellte sich zunächst die Frage nach dem „richtigen“ Problem heraus. Die rumänische Stadt Slatina zum Beispiel identifizierte zunächst die aktuellen Ursache-Wirkung-Beziehungen und analysierte diese in im Rahmen ihrer gesamten URBACT Local Group – insgesamt 97 Personen aus der städtischen Verwaltung, von Sicherheitsfirmen, Schulen und Universitäten, NGOs, lokalen und internationalen Unternehmen sowie Medienvertreter. Eine so umfassende Zusammenarbeit mit der Stadtgesellschaft war methodisches Neuland für Slatina, stellte sich aber als eine sehr positive neue Erfahrung heraus.

Die griechische Stadt Agii Anargyri & Kamatero wählte einen anderen Ansatz und näherte sich den Problemen und Herausforderungen aus der Sicht von Familien und Kindern. Hierfür „drückte das lokale URBACT-Team erneut die Schulbank“ und sprach mit Lehrern, Eltern und Schülern, um mehr über deren Herausforderungen im Bereich Mobilität zu erfahren. Angefangen bei den Schulen konnten so die Bedürfnisse der Familien aufgezeigt werden.

Einen wiederum anderen Ansatz wählte die französische Stadt Morne-a-l’Eau, die bereits umfänglich existierende Ressourcen für die Entwicklung ihres SUMPs nutzen konnte: Die Arbeitsgruppen, Zielen und Erfahrungen aus dem Local-Agenda-21-Prozess, insbesondere in Bezug auf Morne-a-l’Eaus Plan für ein Öko-Quartier. Basierend auf diesem Wissensschatz wurden die Anforderungen an einen nachhaltigen urbanen Mobilitätsplan gemeinsam mit lokalen Stakeholdern, Bürgerinnen und Bürgern bestimmt.

Lieber Schritt für Schritt oder in großen Sprüngen?

Auch der tatsächliche Planungsprozess wurde bei den Netzwerkpartnern unterschiedlich angegangen. Im polnischen Danzig widmete man sich den inhaltlichen Herausforderungen des Stadtverkehrs Schritt für Schritt, angefangen bei den aktuell dringlichsten Herausforderungen im Parkraummanagement bevor anschließend der Öffentliche Verkehr und der Radverkehr „ins Visier“ genommen wurden. Als Format für diesen iterativen Ansatz nutzte Danzig zahlreiche Workshops mit einer Kerngruppe sowie themenrelevanter zusätzlicher Stakeholder. Zudem wurden Politik und Bevölkerung frühzeitig eingebunden, indem regelmäßig Ergebnisse den politischen Entscheidungsträgern berichtet und die inhaltlichen Schwerpunkte mit Bürgerinnen und Bürgern diskutiert und ausgearbeitet wurden.

Im Unterschied zu Danzig wählte Bielefeld einen ganzheitlichen Blick auf die städtische Verkehrsplanung. Dabei wurde eine gründliche Analyse des gesamten städtischen Mobilitätsnetzwerks durchgeführt samt einer Umfrage zum Mobilitätsverhalten der Bürgerinnen und Bürger. Das Analyseergebnis stellte letztlich ein detailliertes Bild zu den Herausforderungen sowohl auf der Makro- als auch auf der Mikroebene dar. Darauf aufbauend erarbeitete die URBACT Local Group die übergeordnete planerische Vision für die Mobilitätsentwicklung der Stadt inklusive sechs Prioritäten, die die relevantesten Aspekte seitens Bielefelds städtischer Verkehrsplanung wiederspiegeln. Gewählten Prioritäten wie „Stadt- und Straßenräume lebenswert gestalten“ zeigen deutlich den ganzheitlichen Planungsansatz eines SUMPs über das Thema städtische Verkehr hinaus auf. Im Rahmen einer nachfolgenden Zukunftswerkstatt wurden passende Maßnahmenpakete zu den Prioritäten erarbeitet. Die Zukunftswerkstatt nutze Kartendaten, Statistiken sowie die Expertise und Perspektive von Radfahrern, Automobilverbänden, ÖPNV-Experten, Lehrern, Ärzten und Polizei seitens lokaler und bundesweit tätiger Stakeholder. Ein weiteres Merkmal des Bielefelder ganzheitlichen Ansatzes war und ist die kontinuierliche Einbindung aller im Stadtrat vertretenen Parteien in den Planungsprozess.

Bottom-up oder Top-down?

Spielt die Größe eine Rolle? Die Antwort seitens CityMobilNet ist ein klares „Ja“, da die Größe einer Stadt auch großen Einfluss auf ihre Rahmenbedingungen und Handlungsmöglichkeiten hat. Die französische Metropolregion Aix Marseille Provence stand vor der Herausforderung, aus dem bestehenden regionale Mobilitätsplan die detaillierten Maßnahmenpakete auf lokaler Ebene zu erarbeiten. Als verantwortliche Behörde für Mobilitätsplanung und deren Umsetzung kooperierte die Metropolregion eng mit Cassis, La Ciotat und Ceyreste zur Gestaltung des zukünftigen Mobilitätsangebots der drei Gemeinden. Hierbei mussten regionale Zielsetzungen mit den lokalen Gegebenheiten eines Touristenmagneten, einer vormaligen Werfts-Gemeinde und eines klassischen „Wohnorts“ abgestimmt werden. Die Arbeit mit lokalem Wissen und Bedürfnissen war essentiell, um auf der supra-lokalen Verwaltungsebene passgenaue lokale Lösungen entwerfen zu können.

Maltas „Süd-Ost Region“ nutze einen ausgeprägteren Bottom-up-Ansatz, mittels direkten Kontaktes zu Bürgerinnen und Bürgern sowie Stakeholdern der vielen Gemeinden, um so Inputs für den Planungsprozess zu erhalten. Insbesondere engagierte und gut vernetzte lokale Politiker waren hier die treibende Kraft für die erfolgreiche Einbindung von beinahe allen Betroffenen. „Es ist am besten gleich mit den Leuten zu reden und dann weiter zu machen“ bestätigte auch der maltesische Lokalpolitiker Lawrance Attard. Diese offene Haltung zu Bürgerbeteiligung ist zum Beispiel auch anhand der immer öffentlich zugänglichen Ratssitzungen zu sehen – entweder online oder durch tatsächliche direkte Teilnahme.

Keine Angst vor eigenen Wegen

Die Erarbeitung und Umsetzung eines SUMPs lohnt sich für jede Gemeinde und Stadt. Diese weisen aber unterschiedliche Rahmenbedingungen auf und nicht allen fällt es leicht,

einen komplexen integrierten Planungsprozess durchzuführen. Hier sind einige Tipps, um die Arbeit am neuen SUMP leichter zu machen:

  • Erarbeiten sie IHREN Plan

Zögern Sie nicht, das SUMP-Konzept und seinen Planungsprozess hinsichtlich Ihrer lokalen Rahmenbedingungen anzupassen. Ein nachhaltiger urbaner Mobilitätsplan sollte in erster Linie die positive Entwicklung Ihrer Stadt oder Gemeinde ermöglichen. Versuchen Sie durchaus, so viel wie möglich vom SUMP-Konzept und Planungsprozess gemäß der EU-Leitlinien zu nutzen, aber nicht auf Kosten der Nutzbarkeit für Ihre Stadt oder Gemeinde.

  • „Sharing is Caring“

Tauschen Sie sich mit anderen Städten aus und lernen Sie von Erfahrungen anderer. Nützliche Webseiten sind: ELTIS section on Urban Mobility Plans, die SUMP Network Website und die Civitas Initiative.

  • Die Probleme kennen bevor man sie löst

Nehmen Sie sich Zeit, Probleme genau zu identifizieren und analysieren, wie es Slatina unter Einbeziehung einer breiten Stakeholder-Beteiligung gemacht hat.

  • Kommunizieren Sie mit Stakeholdern

Nutzen Sie die Möglichkeiten und Ressourcen von Beteiligungsprozessen, aber machen Sie sich vorab ein klares Bild, welche Rolle Stakeholder und Bürgerinnen und Bürger haben sollten: Sind sie Ideen- und Meinungsgeber? Oder Berater? Oder sollen Sie mitreden und Entscheidungsmacht haben? Stakeholder und Einwohner sind wertvolle Ressourcen, aber kommunizieren Sie vorab klar und wecken Sie keine falschen Erwartungen! Urbane Mobilität ist ein komplexes Themenfeld und mit viel unterschiedlichem Fachwissen verbunden. In einem Beteiligungsprozess müssen die tatsächlich Beteiligten immer verstehen, was sie eigentlich diskutieren und erarbeiten.

Autor des Originalartikels: Claus Köllinger

Aus dem Englischen von: Hauke Meyer