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„E-Land“ Estland: Vier Lektionen zum digitalen Wachstum

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07 August 2017
Read time: 5 minutes

Erfahrungen des URBACT-Netzwerks TechTown im beispielhaften Tallinn

Auf einer Konferenz in San Sebastian im Jahr 2016 teilten die leitende Sachverständige Alison Partridge und ich den Mitgliedern aus unserem neuen URBACT-Netzwerk TechTown mit, dass wir sie gerne ein Jahr später zu einer Studienreise nach Tallinn (Estonia) einladen wollten. Von den elf anwesenden europäischen Städten, die zum Netzwerk gehörten, waren damals nur wenige für die Idee zu begeistern. Ein Jahr später, im Mai 2017, scheint uns die damalige Idee nicht so verkehrt gewesen zu sein. Für diejenigen, die es noch nicht wissen: Estland ist ein Musterbeispiel für eine digitale Infrastruktur, die von der Regierung gefördert und koordiniert wird. Neben dem Vereinigten Königreich, Israel, Neuseeland und Südkorea ist Estland ein Mitbegründer von „D5“. Digital 5 ist ein Netzwerk „digitaler Regierungen“, die so die digitale Wirtschaft stärken möchten. Soweit wir beurteilen können, ist Estland das einzige Land weltweit, das sogar eine digitale „E-Residency of Estonia“ vergibt, eine digitale Bürgerschaft für Nicht-Esten. Durch dieses Programm ist es möglich, zu einem digitalen Bürger von Estland zu werden. Soviel zu Sim City!

Das „E“ in Estland
Um zu verstehen, warum Estland im Bereich digitaler Netzwerke heute „so tickt, wie es tickt“, muss man den Hintergrund des innovativen, digitalen Regierungsmodells kennen, das dafür sorgt, dass möglichst viele staatliche Dienstleistungen auf digitalen Plattformen angeboten werden. Nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 gab es nur wenige Systeme, die man eingliedern musste. Gleichzeitig wird in Estland ein Ansatz vorgezogen, der Regulierungen durch den Staat auf ein Minimum beschränkt. Beide Faktoren zusammen haben die Möglichkeit geschaffen, dass nicht nur neue, sondern auch digitale Systeme eingeführt werden konnten. Das Entscheidende war aber, dass die Bevölkerung diese Systeme angenommen und genutzt hat. Unmengen an Daten online zu speichern, erfordert viel Vertrauen: Vertrauen zwischen Bürger und Staat, Vertrauen zwischen den Nutzern, Vertrauen in das System, das die Daten verwaltet.

Die Esten sind davon überzeugt, dass dieses Vertrauen durch den Zugang zum System („Accessability“) und dem verantwortlichen Umgang damit entsteht. Beispielsweise kann jeder Arzt deine Krankenakte einsehen, aber auch du selbst kannst es! Und jedes Mal, wenn deine Akte geöffnet wird, wird eine automatische Notiz hinterlassen, wer wann Zugang dazu hatte. Dieser ist zwar relativ offen, das System liefert aber komplette Rechenschaft über die internen Vorgänge ab. Die Fülle an digitalen Dienstleistungen, die alle auf einer großen Plattform miteinander verknüpft sind, ist atemberaubend – aber eine logische Konsequenz der Entwicklung.

Das Team vom Briefing-Zentrum „E-Estonia Showroom“, wo Vorstände über digitale Innovationen informiert werden und sich dazu austauschen können, redet ehrlich und pragmatisch über die Probleme, die bei der Einführung der Plattformen aufgetreten sind, z. B. was die vorhandenen digitalen Kompetenzen der Menschen anging. Aber mittlerweile sei offensichtlich, dass es „ein nachhaltiger, verlässlicher und ganzheitlicher Erfolg ist“.

Dieser E-Governance-Ansatz und die überzeugte Auffassung, dass man von guten Daten und integrierten Systemen profitiert, bilden mit den damit einhergehenden Abläufen, Qualifikationen und Chancen den Nährboden für die Arbeit digitaler Start-Up-Unternehmen und der Infrastruktur, die mit ihnen entstanden ist. Es gibt unzählige Erfolgsgeschichten – man muss sich nur internationale Netzwerke anschauen, inklusive URBACT, deren Teilnehmer sich regelmäßig via Skype austauschen. Skype ist ein weltweiter Erfolg, dessen Software in Tallinn entwickelt wurde.

Orte und Räume für digitalen Wachstum

Ich habe jetzt schon viel zum „E“ in Estland gesagt. Aber während des Studienaufenthaltes des URBACT-Netzwerkes TechTown in Tallinn wurde klar, dass öffentliche Räume, Orte der Begegnung und vor allem die begeisterten Menschen ein entscheidender Teil  dieses Systems sind. Tallinn ist eine kleine Stadt mit knapp 400 000 Einwohnern auf 159 Quadratkilometern. Trotzdem ist sie eine sehr lebendige Stadt mit einem mittelalterlichen Zentrum, das, zumindest oberflächlich, nicht von Modernisierungsmaßnahmen verändert wurde. Wenn man aber hinter die Fassade der touristenfreundlichen Holztüren und Steintreppen blickt, entdeckt man Arbeitsräume, Ideenschmieden und innovative Startups.


Bei unserem Besuch des Unternehmens „Startup Wiseguys“ konnten sich unsere Partner auch mit anderen Startups und ihren Teams unterhalten, die alle versuchen, in Tallinn Fuß zu fassen. Die Startups kommen sowohl aus Europa als auch aus dem außereuropäischen Raum. Sie alle stehen im Wettbewerb miteinander und versuchen, die Probleme industrieller Dienstleistungen zu lösen.

TechTown Lektion Nr. 1: Die Botschaft des „Startup WiseGuys“ ist klar: Es reicht nicht mehr, einfach ein Ideen-Labor zu sein oder Entwicklungen zu beschleunigen – man braucht einen Fokus. Welche Probleme will man lösen? Ist es die Software? Ist es die Hardware? Oder vielleicht sogar künstliche Intelligenz? Welche Bereiche der Industrie werden von der Startup-Idee profitieren können?

Wir haben hier viele neue Startups kennengelernt und viel über ihre Pläne und Ideen erfahren. Sie alle befanden sich in unterschiedlichen Umsetzungsstufen. Manche waren mehr vom eigenen Erfolg überzeugt als andere, aber sie alle hatten klare Zielvorstellungen. Es war also nicht schwer, sich vorzustellen, dass diese Ideen schon bald Investoren erreichen und die Startups den nächsten Schritt zum Ausbau ihres Unternehmens antreten können.

TechTown Lektion Nr. 2: Strecke deine Fühler weit aus, um die passenden Unternehmer für deine Idee zu finden. Menschen aus anderen Regionen, oder sogar aus anderen Ländern, bringen oft frische Ideen und neue Fähigkeiten mit. Halte Ausschau nach dem Außergewöhnlichen!

Telliskivi, die ‘kreative Stadt‘
Das Zentrum Tallinns hat zwar architektonisch und geschichtlich viel zu bieten, das TechTown-Team ist aber auch außerhalb der Stadtmauer zu einem sehr außergewöhnlichen Ort gefahren: dem Treffpunkt für kreative, kulturelle und digitale Startups. Genau dort wird auch das nächste URBACT Festival stattfinden. Das Quartier Telliskivi ist eine kreative Stadt am Rand von Tallinns Zentrum. Ein privat finanziertes und koordiniertes Projekt ist gerade dabei, die ehemalige Eisenbahnfabrik in ein Zentrum für Theater, Musik und Esskultur umzugestalten. Hier ist auch „Lift99“ angesiedelt. Es ist ein Ort der Zusammenarbeit, das der neuen Generation von Skype-ähnlichen Unternehmen bei ihrem Unterfangen unter die Arme greift. Der ganze Umbauprozess ist einerseits außerordentlich inspirierend, gleichzeitig waren aber auch einige kulturelle Veränderungen notwendig, um dieses Modell begreifbar zu machen.

Das Unternehmen, das sowohl die Leitung als auch die Finanzierung übernimmt, gehört Jaanus Juss, einem erfolgreichen und erfahrenen Geschäftsmann mit klaren Visionen. Es ist unglaublich mitzuerleben, wie viel bereits geschafft wurde. Das private Modell lässt aber einige Fragen offen. So gibt es zum Beispiel kein Sicherheitspersonal auf dem Eisenbahnfabrikgelände, eine Sache, die eine Kommune normalerweise bezahlen würde. Hinzu kommt: Revitalisierung wertet Gebietet auf und kann zu steigenden Bodenpreisen führen. Wird dann das Kulturelle die Priorität bleiben? Wie hoch ist das Risiko für die Menschen, die diesen Ort als ihr Zuhause und als ihre Arbeitsstätte gewählt haben? Könnte er unter Umständen verkauft werden?

Zweifelsohne ist die Botschaft von Telliskivi, dass der öffentliche Sektor sich nicht in die Arbeit der Jungunternehmer einmischen soll. In vielen Ländern der EU ist es oft nicht so einfach, wie es klingt. In Estland herrscht die „light-touch governance“-Einstellung, welche den Städten nur eine minimale rechtliche und regulatorische Einmischung in lokale Angelegenheiten erlaubt. Auf welche Weise können die Städte bei der Entwicklung dieser wachsenden, digitalen und kreativen Räume dennoch helfen? Die Frage, welche Bedingungen notwendig sind, damit dieses „Ökosystem“ sich entwickeln und „gedeihen“ kann, hat zwischen den teilnehmenden europäischen Städten des TechTown-Netzwerks viele Diskussionen ausgelöst. Dabei wurde deutlich, dass die Teilnehmer die zunehmend tragende Rolle des privaten Sektors als Schlüsselkomponente für den Erfolg dieses Modells ansehen. Was die Stadt im Bereich ihrer Möglichkeiten zum Erfolg dieser Entwicklung beitragen kann, bedarf weiterer Diskussion.
 
TechTown Lektion Nr. 3: Der private Sektor wird die Möglichkeiten ergreifen einen Ort zu kreieren, an dem man Risiken eingehen kann und wo Unternehmen sich so wenig wie möglich mit den Behörden auseinander setzen müssen. Das Ziel ist es, dass sie sich so gut wie möglich auf ihre Arbeit konzentrieren können und auf eigenes Risiko Verantwortung dafür übernehmen sollen.

Außerhalb des Stadtzentrums sind in Tallinns Wissenschaftspark Tehnopol und einem Teil von Tallinns Technischer Universität über 200 Unternehmen mit Technikbezug angesiedelt. Hier wurden wir von der Managerin für Grüne Technologie, Kairi Sülla, empfangen. Als Repräsentanten von Tallinns Smart City Cluster stellte sie uns Mitarbeiter von Unternehmen vor, die sich mit intelligenten Produkten auseinander setzen. Diese zeigten uns die unterschiedlichsten digitalen Neuerungen: vom IoT-verbundenen Fahrradständern und intelligenter Straßenbeleuchtung (IoT: „Internet of things“ oder „Internet der Dinge“, einer Technologie, die Gegenstände via Internet miteinander kommunizieren lässt) bis hin zum Management großer Menschenmassen im Straßenverkehr und bei touristischen Zielen. Alle, die mit dem Gedanken spielen, Tallinn zu besuchen, können vorab die mittelalterliche Altstadt, die auf der Liste des UNESCO-Kulturerbes steht, in 3D besichtigen!

Auf geht’s!
Tallinn ist ein aufregendes Pflaster! Wichtig ist aber, dass wir neben der Theorie nun endlich unsere Hände „digital“ schmutzig machen müssen und dieses angesammelte Wissen auch zur Lösung unserer lokalen Probleme heranziehen sollten.

Zurück zum November 2016: Als Tracey, Ceri und Nicola aus Barnsley (TechTown Lead Partner, UK) damals zur Vorbereitung des Studienaufenthalts nach Tallinn gefahren sind, ist ihnen ein Ort besonders ins Auge gefallen: Mektory. Es ist ein Teil der Technischen Universität von Tallinn und kaum mit wenigen Worten zu beschreiben. Es ist ein Ort, wo Unterstützung groß geschrieben wird, ein innovativer Ort für Startups, Events, junge Menschen und so vieles mehr. Das Gebäude selbst gibt nicht so viel her, wenn man von den gelben Farbklecksen einmal absieht. Aber das Team hat einen sehr offenen Ort geschaffen, der über die Grenzen der EU hinaus reicht: Konferenzräume, die von anderen Ländern gesponsert werden, Weltkarten auf denen du den Namen deiner Stadt eintragen kannst, einen Bereich, wo du Umarmungen geben und bekommen kannst – all diese Dinge geben diesem Ort eine unglaublich positive Atmosphäre!

TechTown Lektion Nr. 4: Design ist wichtig! Dies ist auch beim Barnsley TechTown Event im März deutlich geworden. Die Einrichtung der Räume, wie sie ausschauen und wie sie sich anfühlen, entscheidet oft darüber, ob sie funktionieren oder nicht. Beim Design von Mektory ist es  offensichtlich gelungen, mit einem kleinen Budget großartige Orte zu gestalten, wo man sich gerne aufhält und neue Ideen entwickelt. Es fühlt sich einerseits sehr heimisch, sehr „lokal“ an, gleichzeitig ist es aufgrund seiner aktiven, weltweiten Vernetzung sehr „global“.

Am Ende unseres Studienaufenthalts haben wir überlegt, wie alles, was das #TeamTechTown erfahren und gelernt hatte, am schnellsten und effektivsten auf lokaler Ebene in jeder Partnerstadt umgesetzt werden kann. Ein schnelles Domino-Spiel hat uns gezeigt, was jeder bis dahin für sich gelernt hatte. Um das auch umzusetzen, brauchte es aber ein neues Instrument. „Ökosystem in einer Box“ war ein Satz, der von Laura Bennet beim TechTown-Treffen in Limerick im September 2016  geprägt wurde. Er soll die Art anregen, wie wir über die Bestandteile eines gut funktionierenden Ökosystems nachdenken sollen. Es ist beides: eine Methode und ein Widerspruch. Im TechTown-Netzwerk waren wir der Meinung, dass man ein Ökosystem nicht einfach schaffen kann. Trotzdem hatten wir eine Menge Bastelmaterialien im Gepäck, alles von Knete bis hin zu Pfeifenreinigern. Wir waren bereit, unsere Voreingenommenheit auf den Prüfstand zu stellen. Wir wollten anfangen, ein Ökosystem zu bauen!  Aber Spaß beiseite – diese Übung bot den Partnern mit einem Interesse an Technikwirtschaft die Möglichkeit, die Elemente herauszuarbeiten, die für die eigene Stadt von Bedeutung sein könnten. Dies alles kann man auf Videos nachverfolgen und dabei einen Blick in die digitale Zukunft Europas werfen.

Nach der Hälfte der Laufzeit im URBACT-Netzwerk TechnTowns machen unsere Städte bereits enorme Fortschritte bei der wachsenden Anzahl an digitalen Jobs und Unternehmen. Den Beweis, dass es funktioniert, liefert Tallinn vorbildlich und er inspiriert uns dazu, weiter zu machen. Man sieht nicht oft, dass jemand aus allen Schranken ausbricht und seine Ideen unbeirrt verwirklicht!

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Die Studienreise wurde von Toby Stone ko-organisiert. Er ist mit seinem Unternehmen führend im Bereich Technologie und ist als Berater für die estnische Regierung tätig. Nur mit Tobys Hilfe konnte unsere Reise diesen hohen Standard an Wissenstransfer erreicht.

Die Übung „Ökosystem in einer Box“ wurde an eine ähnliche Übung aus dem Scale Up Institut angelehnt und von Laura Bennett modifiziert. Laura Bennett ist Beraterin auf dem Gebiet der technologischen Industrie und sie ist Moderatorin und URBACT-Expertin. Lauras Blog über den Besuch in Tallinn können Sie hier nachverfolgen.

Der Artikel wurde von Tracey Johnson am 17. Juni 2017 veröffentlicht. Den Originalartikel finden Sie hier.

Bildnachweis
Titelfoto: e-estonia, ©Tracey Johnson
Weitere: e-stonia, ©Tracey Hohnson, Logo ©Tehnopol Tallin