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„Flüchtlingskrise“: Wie können Städte ihre Dienstleistungen neu gestalten?

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09 October 2017
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In letzter Zeit wird viel über die zusätzliche Belastung geredet, die die Flüchtlingswelle für die öffentlichen Dienstleistungen bedeutet. Weniger Diskussionen gibt es darüber, wie Städte – und es geht hauptsächlich um Städte – damit umgehen. Und noch weniger wird angesprochen, was wir daraus lernen können und welche Auswirkungen das für zukünftige öffentliche Dienstleistungen hat.

von Eddy Adams

Das war das Thema bei der Veranstaltung „Soziale Innovation in Europa“, die vor kurzem im sizilianischen Syrakus stattfand. Bei dem Treffen an einer von Europas Grenzlinien hatten wir die Chance, uns ein Bild davon zu machen, was dort los ist und was die Leute aus den jüngsten Erfahrungen mitgenommen haben. Es ging uns insbesondere darum, das Angebot an sozialen Innovationen zu beleuchten, die gerade entstehen, um der neuen Nachfrage gerecht zu werden. Der Artikel stellt einige dieser neuen Dienstleistungs-Beispiele vor und zieht Rückschlüsse, inwiefern sie für eine ganz neue Dynamik im Dienstleistungsbereich stehen. Am Ende schließen wir mit Ezio Manzinis Ruf nach einem neuen Blickwinkel auf das Flüchtlingsthema, angelehnt an einen gestaltungsorientierten Dienstleistungs-Ansatz

Wie kann man gegen eine negative Wahrnehmung vorgehen?

Heute sind die Berichte zum Flüchtlingsthema in Europa fast immer negativ. Angst vor Terrorismus, Islamophobie, die sich weiter auswirkende globale Finanzkrise: Das alles trägt zu einem Klima der Angst bei, die die Debatte bestimmt. Zu oft dürfen Fakten diese Debatte nicht behindern. Wie die Tatsache, dass einige EU-Länder aufgrund des demografischen Wandels auf Einwanderung angewiesen sind, um ihre Wirtschaft künftig am Laufen zu halten. EU-Prognosen zeigen zum Beispiel, dass die deutsche Bevölkerung ohne Einwanderung bis 2060 von aktuell 81,3 auf 70,8 Millionen Menschen gesunken sein wird. Die polnische Bevölkerung wird voraussichtlich im selben Zeitraum um 14 Prozent schrumpfen. Trotz dieser Fakten bleiben die Ängste bestehen. Zu häufig basieren sie eher auf Vorurteilen oder Gerüchten als auf Tatsachen. Das kann ein heimtückisches Problem sein – insbesondere wenn viele Medien einen „Anti-Einwanderungs-Unterton“ pflegen.

Eine Stadt, die sich gegen diesen Teufelskreis der Gerüchte auflehnt, ist das portugiesische Amadora aus der Metropolregion Lissabon und Lead Partner des URBACT-Netzwerks ARRIVAL CITIES. Die Stadt hat einen innovativen Weg eingeschlagen um mit böswilligen Gerüchten gegen Einwanderer umzugehen und um sicherzustellen, dass ihre Einwohner die Fakten kennen. Keine Gerüchte verbreiten! ist eine Kommunikationskampagne, die ursprünglich in einer der städtischen Gymnasien begann. Ziel war es, haltlose Gerüchte in einer Stadt zu entkräften, in der zehn Prozent der Bevölkerung aus portugiesisch-sprachigen afrikanischen Ländern kommen. Unbegründete Annahmen über deren Schulleistungen, soziale Bräuche und Einstellungen behinderten eine effektive Integration. Die Kampagne beinhaltete die Rekrutierung und die Ausbildung von 60 Schülern des Seomara da Costa Gymnasiums als „Anti-Gerüchte-Agenten“. „Bewaffnet“ mit Fakten und dafür trainiert, mit Gerüchten umzugehen, wenn sie aufkommen, waren diese Schüler Teil eines effektiven Pilotprojektes, das jetzt auf die ganze Stadt übertragen wird.

 

Wie können wir den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen unterstützen?

Die Neuankömmlinge brauchen Zugang zu Informationen und öffentlichen Dienstleistungen. Sie kommen oft mit wenigen Mitteln an, sprechen die Sprache des Gastlandes nicht und haben eine andere kulturelle Prägung. Im Ergebnis verbringen sie sehr viel Zeit damit, in ihren Gastgeberstädten Schlange zu stehen für Informationen oder Beratung. Effiziente Wege, die ihnen helfen, direkt auf Informationen zuzugreifen, sind deshalb im Interesse aller.Deshalb gibt es eine ganze Welle an innovativen Ideen, die sich damit beschäftigen, Einwanderern den Zugang zu Informationen zu erleichtern.

Die vielleicht bekannteste Neuheit, die dieses Feld anführt, ist Mobilearn, eine Weblösung, die ursprünglich in Schweden entwickelt wurde. Etabliert als ein soziales Unternehmen von Leuten mit eigenen Migrationserfahrungen, wird sie nun auch auf andere Teile Europas übertragen. In Anerkennung der Tatsache, dass Smartphones unter den Immigranten weit verbreitet sind, ist Mobilearn ein „Überlebens-Handbuch“ für lokale Dienstleistungen und in einer Vielzahl von Sprachen verfügbar. Mobilearn wurde intensiv evaluiert und es wird eine wichtige Datenbank dazu aufgebaut, wie viele Arbeitsstunden und wie viel Geld sich die Kommunen damit sparen. Auch die sozialen Auswirkungen werden untersucht. In einigen Aspekten ähnelt diese Arbeit der in anderen Städten, die online „Willkommens-Dienstleistungen“ für Neuankömmlinge entwickeln. Dresden, das mit vielen Protesten gegen die Geflüchteten konfrontiert war, veröffentlichte eine App um die Neuankömmlinge 2015 willkommen zu heißen. Auch hier ermöglicht es die App den Migranten, sich für Gesundheitsdienstleistungen oder andere Dienste zu registrieren.

Was zeigen uns diese Entwicklungen über die gerade entstehende Dienstleistungs-Nachfrage? Zuallererst unterstreichen sie die Allgegenwärtigkeit und Bedeutung von Smartphones. Einwanderer, die mit so gut wie nichts ankommen, haben zumindest ein Smartphone. Und wenn nicht, ist es das, was sie sich als allererstes anschaffen. Dies zeigt die bereits stattfindende Verschiebung weg von Dienstleistungen mit persönlichem Kontakt hin zu solchen, die online und 24 Stunden am Tag verfügbar sind. Dieser Trend wird sich noch weiter verstärken.

Was für Wohnlösungen entwickeln sich?

In vielen europäischen Städten ist bezahlbarer Wohnraum knapp, weshalb diese Thematik als Priorität in der Urbanen Agenda der EU eingestuft wurde. Für neu Ankommende ist Wohnen eine klarer Schwerpunkt, aber angesichts der aktuellen Situation kann sich das schwierig gestalten. In Deutschland, wo der Druck vielleicht am akutesten ist, kam ein Bericht der Robert Bosch Stiftung kürzlich zu dem Schluss, dass bis zu 125.000 zusätzliche Wohnungen notwendig sind. Um Lösungen zu finden, wurden viele verschiedene Initiativen angestoßen. Diese reichen von der Erst-Unterbringung über Pilotansätze des geteilten Wohnraums bis hin zu der kontrovers diskutierten Nutzung von leerstehenden Wohnblöcken aus DDR-Zeiten. Wieder spielt die Online-Kommunikation einen Schlüsselpart bei der Lösung. Die in Deutschland initiierte Refugees-Welcome-Seite, unweigerlich als „AirBnB für Flüchtlinge“ betitelt, bringt Menschen, die Unterkunft suchen mit solchen zusammen, die Gäste aufnehmen. Die Seite gibt es in weiten Teilen Europas und in Kanada. Bislang wurden so über 600 Flüchtlinge in Wohnungen vermittelt.

In die gleiche Richtung geht das britische Modell der „Shared Lives“. Es zielt darauf ab, schutzbedürftige Menschen dabei zu unterstützen, in Gemeinschaften zu leben und bringt Gastfamilien mit Einzelpersonen zusammen. Obwohl sich die Initiative ursprünglich auf Gesundheitsaspekte konzentrierte, konnten die Prinzipien angewandt werden, um generell neu ankommende Einwanderer zu unterstützen.

 

Wie können wir die Nachfrage nach Ausbildung und Arbeit decken?

Ein großer Teil der Flüchtlinge in der EU sind Menschen unter 34 Jahren. Im Jahr 2015 waren 88.700 von ihnen unbegleitete Minderjährige. Für viele bedeutet das eine Unterbrechung ihrer Schulausbildung. Von den jungen Syrern, die in Europa ankommen, waren 25 Prozent noch in der Schule oder Ausbildung, bevor ihr Leben umgekrempelt wurde. Den Ausbildungswünschen dieser jungen Menschen zu entsprechen ist eine andere Herausforderung, der die Gaststädte gegenüberstehen.

Es ist offensichtlich, dass die Migranten, die nach Europa kommen, mit Hindernissen bei der Ausbildung konfrontiert werden. Dazu gehören fehlende Kenntnisse der jeweiligen Landessprache, die die Teilhabe am Bildungssystem verhindern. Eine weitere Hürde ist die fehlende Vergleichbarkeit der in Drittländern absolvierten Abschlüsse. Hinzu kommt, dass viele Flüchtlinge mit wenig Hab und Gut ankommen. Oft fehlen ihnen Zeugnisse und Ausbildungsnachweise, auch wenn sie diese absolviert haben.

In Deutschland haben Kiron-Lernzentren einen innovativen Zugang zu Bildung geschaffen, der mit den Universitäten des Landes verknüpft ist und auf Flüchtlinge abzielt. Eingebettet in ein Netzwerk von Hochschulen, bietet Kiron Lernprogramme über Online-Kurse an (MOOCs - Massive Open Online Courses). Außerdem gibt es Unterstützung beim Sprache lernen über so etablierte Anbieter wie Babbel. Kiron hat über Crowdfunding 500.000 Euro akquiriert, mit denen die Plattform fast 500 Stipendien anbieten kann. Das Feedback war sehr positiv und Kiron expandiert rapide seit seiner Gründung.

Für Erwachsene, die schnell eine Arbeitsstelle finden möchten, mag Ausbildung nicht die Priorität sein. Sich Arbeitsmarkt-Kompetenzen anzueignen bzw. die vorhandenen zu präsentieren ist eine wichtigere Aufgabe. Für diejenigen, die bereits eine Ausbildung haben, aber denen die Papiere und die Erfahrung im Gastland fehlen, ist der Bereich der Mikro-Referenzen hilfreich. Das spiegelt die wachsende Nachfrage von Arbeitgebern wider, die ganz genau wissen möchten, welche Fähigkeiten die Leute haben und damit auf den Trend der sehr allgemeinen Job-Beschreibungen reagieren. Empfehlungen auf LinkedIn sind ein gutes Beispiel für diese Entwicklung, von Beth Simone Noveck als „Technologien der Expertise“ bezeichnet.

Für die Flüchtlinge mit einer guten Ausbildung entstehen gerade verschiedene spezielle Services. Eines davon ist das „Flüchtlings-Ärzte-Programm“, das vom schottischen Bridges Projekt initiiert wurde. Damit sollen gut ausgebildete geflüchtete Ärzte unterstützt werden, damit sie schnell eine Anstellung im schottischen Gesundheitssystem finden. Das Programm ist auch offen für Zahnärzte und Apotheker.

Welche Schlussfolgerungen können wir aus diesen intensiven Erfahrungen ziehen?

Es ist viel zu früh, um in den europäischen Städten aussagekräftige und schnelle Schlussfolgerungen zum Umgang mit den Bedürfnissen der Einwanderer zu ziehen. Das Bild ist so vielfältig und durcheinander, dass generalisierte Beobachtungen ein riskantes Unterfangen sind. Dennoch - auf der Grundlage von frühen Rückmeldungen sollen hier einige mögliche Auswirkungen für unsere Verwaltungsstrukturen aufgezeigt werden.

Die Ankunft der Einwanderer erschafft eine Nachfrage nach neuen Dienstleistungen

Die Wellen von Menschen, die aus den unruhigsten Ecken der Welt zu uns kommen, erschaffen einen neuen Markt für Dienstleistungen. Manche davon werden illegal angeboten. So berechnen Schlepper die kompletten Ersparnisse der Menschen dafür, sie in einem windigen Boot über das Mittelmeer zu bringen. Andere sind legale, grundlegende Dienstleistungen, wie die Bereitstellung von Wohnungen und Ausbildung. Dazwischen wächst der Markt der „gemischten“ Dienstleistungen, so wie Apps, die den Einwanderern dabei helfen, mit dem neuen System und den Lebensumständen, die sie bei ihrer Ankunft vorfinden, zurechtzukommen.

Vieles davon spiegelt Trends wider, die es in unseren Städten bereits gibt:

Die neuen Dienstleistungen, die in diesem Artikel erwähnt werden, richten sich hauptsächlich an die Neuankömmlinge. Dennoch spiegeln sie auch den Bedarf an Dienstleistungen wider, den es in unseren Städten bereits vorher gab, wie z. B.

  • Die Notwendigkeit, den wachsenden Gerüchten über die schwächsten Mitglieder unserer Gesellschaft Paroli zu bieten (Vordenker wie Julia Unwin haben über die steigende Tendenz geschrieben, arme und gefährdete Menschen für ihre eigenen Situationen verantwortlich zu machen).
  • Die Nachfrage nach einem breiteren Zugang zu höherer Bildung, der gratis und 24 Stunden am Tag verfügbar ist.
  • Die Herausforderung, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen – und insbesondere die Nachfrage nach geförderten Wohn-Modellen für die am meisten benachteiligten Menschen unserer Gesellschaft.

Als Nationalstaaten beratschlagten und Stadtverwaltungen die Hände gerungen haben, waren es in ganz Europa die normalen Bürger, die in die Presche gesprungen sind, um den Neuankommenden ihre Hilfe anzubieten. Diese mitfühlende, öffentliche Unterstützungswelle war einer der wenigen Lichtblicke in der ansonsten dunklen Periode europäischer Geschichte.

Dennoch haben unsere etablierten Förder-Programme um Wege gerungen, wie sie diese kleinen Bürgerinitiativen angemessen unterstützen können, die oft von Gruppen Freiwilliger mitkoordiniert werden, die nicht als Verein oder ähnliches organisiert sind. Nehmen Sie zum Beispiel den Fall von Options FoodLab in Griechenland. Dort werden verschiedene Aktivitäten unterstützt, die mit Essen zu tun haben und bei denen Anwohner und Flüchtlinge zusammengebracht werden. Aufgrund des ungünstigen Klimas, das in Griechenland im Bereich für soziale Unternehmen herrscht, mussten sie dennoch um ihren Erhalt und ihre Weiterentwicklung kämpfen.

Ja, die Zeiten sind hart und es ist weniger Geld vorhanden. Aber das ist genau die Zeit, in der Kreativität, Energie und soziale Innovation gefordert sind – und bescheidene Geldmittel, um die Räder für den Start zu ölen.

 

Und zum Schluss…

Auf der Veranstaltung zur Sozialen Innovation in Syrakus hielt Ezio Manzini, Professor an der Polytechnischen Hochschule Mailand und an der Kunsthochschule London, eine inspirierende Rede, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzte. Von einer Design-Perspektive ausgehend, betonte er die Notwendigkeit, die Sichtweise auf die Einwanderer zu ändern und die Notwendigkeit, einen Ansatz zu wählen, bei dem der Mensch im Mittelpunkt steht. Anstelle des belasteten Begriffs Flüchtling schlug er „Menschen in Bewegung“ vor. Er sprach sich außerdem für eine Neugestaltung öffentlicher Dienstleistungen aus.

Auf einer hochrangigen politischen Ebene erkunden die EU in ihre Mitgliedstaaten Lösungen, wie das kürzlich abgeschlossene, kontrovers diskutierte Abkommen mit der Türkei. Währenddessen werden an der Basis, also in unseren Städten, praktische Lösungen geschmiedet. Das kommt daher, dass die meisten Einwanderer in die städtischen Gebiete streben, wo sie ihre Netzwerke haben und sie am wahrscheinlichsten Arbeit finden. In den kommenden Monaten wird es einen zunehmenden Austausch zu Aktivitäten und Ressourcen in unseren Städten geben: Wie bringen sie die Einwanderer unter? Wie unterstützen sie die „Menschen in Bewegung“? Auch wenn das schon vielfach gesagt wurde: Die Dringlichkeit der Situation erfordert ein wirkliches Bekenntnis dazu, zu lernen, Lösungen zu finden und diese weiterzugeben. Einige der Schlüsselbestandteile davon finden sich in der Urbanen Agenda der EU wieder, die die Integration als einen ihrer vier Schwerpunkte benennt. Auch das Urban Innovative Actions-Programm setzt sich mit der Problematik auseinander, eines der vier Hauptrichtungen des Programms ist die Integration von Einwanderern. Daneben beschäftigte sich auch der kürzlich geschlossene Call des Wettbewerbs für Europäische Soziale Innovation mit diesem Thema.

Eine klare Aussage der Veranstaltung in Syrakus war auf jeden Fall: Die Probleme, die die Flüchtlingskrise offenlegt, machen nur die fundamentalen Herausforderungen sichtbar, mit denen sich unsere Städte in diesen turbulenten Zeiten sowieso auseinandersetzen müssen. Sie agieren somit auch als potentielle Beschleuniger für eine Neugestaltung von öffentlichen Dienstleistungen und von Innovation. Auch einige der neuen URBACT-Netzwerke setzten sich mit diesen Themen auseinander, so z. B. CHANGE!, Boostino oder Interactive Cities.

Dies ist die Übersetzung eines englischen Textes von Eddy Adams. Den Originalartikel finden Sie hier.

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