Sechs Lösungsansätze für Städte zur Reduzierung von Lebensmittelabfällen
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22 April 2022Jedes Jahr werfen private Haushalte in der EU mehrere Millionen Tonnen an Lebensmitteln weg. Was können Städte tun, um die Lebensmittelverschwendung zu verringern?
Etwa 20 Prozent aller in der EU produzierten Lebensmittel werden weggeworfen. Dadurch entstehen jährlich Emissionen von 186 Millionen Tonnen CO2, schreibt Antonio Zafra, Lead Experte des URBACT FOOD CORRIDORS Netzwerks, in einem aktuellen Artikel, der sich auf Zahlen der Europäischen Umweltagentur bezieht. Mehr als 50 Prozent dieser Lebensmittelabfälle entstehen in privaten Haushalten – durchschnittlich 47 Millionen Tonnen pro Jahr. Welche Maßnahmen können Verwaltungsbehörden ergreifen, um diese Verschwendung zu vermeiden? Und welche Unterstützung bietet URBACT dabei? URBACT-Programmexpertin Marcelline Bonneau geht dieser Frage nach.
Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (Food and Agriculture Organization, FAO) schätzt, dass weltweit jedes Jahr ein Drittel aller für den menschlichen Verzehr produzierten Lebensmittel im Müll landet. Das sind 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel und umgerechnet 750 Milliarden Dollar – das entspricht dem Bruttoinlandsprodukt der Schweiz. Auf europäischer Ebene sind dies jährlich 89 Millionen Tonnen Lebensmittel, was etwa 179 Kilogramm pro Kopf und Jahr ausmacht (über die gesamte Lieferkette).
Obwohl es äußerst schwierig ist, genaue Daten zu erhalten, liegen uns einige Zahlen vor. In der Region Brüssel-Hauptstadt in Belgien werfen private Haushalte schätzungsweise 15 Kilogramm Lebensmittel pro Person und Jahr weg, was drei täglichen Mahlzeiten für 30.000 Menschen im Laufe eines Jahres entspricht.
Warum verschwenden wir so viele Lebensmittel?
Die Lebensmittelverschwendung steht in einem engen Zusammenhang mit unseren alltäglichen Aktivitäten: einkaufen, kochen, essen, Mülltrennung, aber auch unsere Arbeit, Hobbies und Freizeitaktivitäten oder unserer Mobilität, wie in der folgenden Abbildung dargestellt ist:
Dies kann folgendermaßen erklärt werden:
Wir sind von Produktions- und Konsumsystemen abhängig:
- Verfügbare Informationen (z.B. Mindesthaltbarkeitsdaten oder Werbeaktionen)
- Ernährungskultur (z.B. die Gewohnheit große Essensmengen für Gäste bereitzustellen, ein bestimmtes Verständnis von Sicherheit und Ästhetik in Bezug auf Lebensmittel, bestimmte Wertvorstellungen in Bezug auf „billige“ Lebensmittel)
- Verfügbare Produkte (z.B. Produkttypen oder Verpackungen)
Alltägliche Gewohnheiten:
- Persönliche Bedeutungszuschreibung (z.B. kulinarische Traditionen, oder nicht zweimal das Gleiche essen wollen)
- Wissen und Kompetenzen (z.B. Kochfähigkeit, Improvisation, Kenntnis über vorhandene Lebensmittel, vorausschauendes Einkaufen)
- Haushaltsgeräte (z.B. zur Aufbewahrung und Verarbeitung)
Persönliche Faktoren:
- Kapazitäten (z.B. berufliche Verpflichtungen, Häufigkeit der Einkäufe)
- Lebenserfahrung (z.B. verfügbare Zeit, Familie, Erschöpfung)
- Werte (z.B. Freude am Essen im Freien, Schuldgefühle beim Essen)
Sechs Ansätze für Städte im Kampf gegen die Lebensmittelverschwendung
Vor diesem Hintergrund haben einige URBACT-Städte verschiedene Initiativen gegründet, die private Haushalte dabei unterstützen sollen, ihre Lebensmittelabfälle zu reduzieren. Auf der Grundlage ihrer Erfahrungen haben wir sechs Lösungsansätze entwickelt, die auch andere Städte motivieren können.
1. Fakten zur Lebensmittelverschwendung kennen
Zunächst ist es wichtig, das Ausmaß der Lebensmittelverschwendung in privaten Haushalten zu ermitteln, um geeignete politische Maßnahmen und Instrumente zu planen (siehe 2.). Es kann sich jedoch schwierig gestalten, Methoden zur Beobachtung der Lebensmittelabfälle zu entwickeln, um vergleichbare Daten zu sammeln. Einigen URBACT-Städten ist es jedoch gelungen, geeignete Konzepte zu entwickeln. Bristol, britische Partnerstadt im URBACT-Netzwerk Sustainable Food in Urban Communities, entwickelte 2016 einen Ansatz, der auf den Grundsätzen der Abfallhierarchie basiert. Die 2008 EU-weit eingeführte Abfallhierarchie legt die Prioritäten im Umgang mit Abfällen in der folgenden Reihenfolge fest: Vermeidung von Abfall, Vorbereitung zur Wiederverwendung, Recycling, Rückgewinnung und als letzte Option die Beseitigung des Abfalls. Mithilfe der Strategie „Towards a zero waste Bristol“ des Stadtrats von Bristol konnte die Stadt messbare Erfolge bei der Reduzierung von Lebensmittelabfällen erreichen.
Auch die belgische Stadt Gent führte eine Vergleichsstudie zur Lebensmittelverschwendung durch, um die durch das Foodsavers Ghent Programm geretteten Abfälle zu erfassen und damit einhergehende Treibhausgaseinsparungen zu berechnen. Als Mitglied des Milan Urban Food Policy Pact (Mailänder Abkommen für urbane Lebensmittelpolitik, MUFPP) bemüht sich Gent, die MUFPP-Bewertungsstrategie in das eigene Handeln einzubeziehen, um genauere Messergebnisse bei den Auswirkungen der Lebensmittelpolitik zu erzielen. Die belgische Stadt Brügge, Mitglied von Eurocities, führte eine Umfrage zur Selbstauskunft unter den Bürger:innen durch, um zu ermitteln wie wirksam die Tipps gegen Lebensmittelverschwendung sind, die von der Stadt zur Verfügung gestellt werden. Die französische Agentur für Umwelt und Energiemanagement ADEME hat bereits vor acht Jahren im Rahmen einer nationalen Studie erörtert, wie Haushalte ihre Lebensmittelverschwendung selbst ermitteln können.
2. Entwicklung eines lebensmittelpolitischen Handlungsrahmens
Wie bereits oben beschrieben, betrifft die Lebensmittelverschwendung eine Reihe verschiedener Themen. Einige Städte haben daher spezielle Strategien entwickelt, um das Problem ganzheitlich anzugehen, indem nicht nur nachhaltige Lebensmittel, sondern auch speziell Lebensmittelabfälle im Mittelpunkt stehen. Die italienische Stadt Mailand, die auch Koordinatorin des MUFPP und Lead Partner des URBACT-Netzwerks NextAgri ist, wurde für ihre Lebensmittelpolitik als URBACT Good Practice ausgezeichnet. Ziel des Rahmenkonzeptes „Rethinking Milan’s approach to food waste“ ist die Reduktion der Lebensmittelabfälle bis 2030 um 50 Prozent. Dazu wurden fünf Schwerpunktbereiche festgelegt:
- Informieren und Sensibilisieren der Bürger:innen und lokalen Akteur:innen zur Reduzierung von Lebensmittelverschwendung
- Wiederverwerten und Umverteilen von Lebensmittelabfällen
- Aufbauen lokaler Partnerschaften, z.B. zwischen gemeinnützigen Hilfsorganisationen, Supermärkten und kommunalen Behörden
- Optimieren und Reduzieren von Lebensmittelverpackungen
- Anstreben einer Kreislaufwirtschaft im Lebensmittelsektor
Die Stadt Mailand hat bereits entsprechende Maßnahmen ergriffen und erste Messungen vorgenommen. Mit einer Kampagne zur Förderung der Trennung von organischen und nicht-organischen Abfällen wurde beispielsweise innerhalb von drei Jahren eine Abfalltrennung von 56 Prozent erreicht, gegenüber 36 Prozent im Jahr 2012. Mit diesem ersten Schritt konnten private Haushalte für die Menge der verschwendeten Lebensmittel sensibilisiert werden.
3. Sensibilisieren und Informieren
Damit private Haushalte tatsächlich damit beginnen, ihre Lebensmittelabfälle zu reduzieren, müssen sie Lebensmittelverschwendung als Problem anerkennen. Aus diesem Grund haben die belgische Region Wallonien (Moins de déchets) sowie Frankreich (Ça suffit le gâchis), Deutschland (Zu gut für die Tonne) und Großbritannien (Love Food, Hate Waste) spezielle Informationskampagnen zu diesem Thema entwickelt. Darüber hinaus stellen sie konkrete Tipps für den Alltag zur Verfügung.
Insbesondere die Kampagne „Love Food, Hate Waste", die von der gemeinnützigen Organisation WRAP geleitet wird, verfolgt seit 2007 das Ziel, Verbraucher:innen zu mobilisieren und intensiv mit Unternehmen (einschließlich Supermärkten) zusammenzuarbeiten. Sie organisieren öffentlichkeitswirksame Aktionen wie Plakatkampagnen und Veranstaltungen und nutzen soziale Medien zur Bekanntmachung. Die Website der Kampagne bietet außerdem Tipps für die richtige Lagerung sowie Rezepte für übrig gebliebene Lebensmittel und informiert über Verfallsdaten, Kompostierung und das Messen von Lebensmittelabfällen.
Es gibt außerdem die „Money-Saving“-App mit einem Mahlzeitenplaner und zahlreichen Rezepten, um bereits gekaufte Lebensmittel zu verbrauchen und unnötige Einkäufe zu vermeiden. Dank der Kampagne konnten die vermeidbaren Lebensmittelabfälle um etwa 14 Prozent reduziert werden, wobei manche Haushalte ihre Lebensmittelabfälle sogar um bis zu 43 Prozent reduzierten. Die Kampagne ist auf eine einseitige Kommunikation ausgelegt und erfordert daher nur wenig Zeit und Personal.
4. Bürger:innen herausfordern
Städte können spezielle Hilfsmittel bereitstellen, um Haushalte bei ihrer täglichen Herausforderung zu unterstützen, Lebensmittel zu reduzieren. Darüber hinaus können sie auch zwischengeschaltete Organisationen und Institutionen wie Nichtregierungsorganisationen und Schulen unterstützen. In Alameda County in Kalifornien hat die staatliche Organisation „Stop Waste“ beispielsweise ein „Eat This First“-Schild für den Kühlschrank entworfen, damit Haushalte und Unternehmen einen Bereich im Kühlschrank für Lebensmittel markieren, die bald verzehrt werden müssen.
Private Haushalte direkt in Aktivitäten einzubinden ist der Schlüssel, um sie dazu zu animieren, ihre Lebensmittelabfälle zu reduzieren. Die Region Brüssel-Hauptstadt unterstützt im Rahmen ihrer „Good Food Strategy“, die ein Ergebnis des von ihr geleiteten URBACT-Netzwerks Sustainable Food in Urban Communities ist, die Entwicklung des Programms „FoodWasteWatchers“. Es soll dabei helfen, herauszufinden, welche Lebensmittel in privaten Haushalten weggeworfen werden und warum, um Strategien dagegen zu entwickeln.
2019 organisierte die Stadt Oslo in Norwegeneine Aktion und ein Schulungsprogramm, um Familien bei der Halbierung ihrer Lebensmittelabfälle zu unterstützen. Während dieses vierwöchigen Projekts haben 30 Familien ihre Lebensmittelabfälle gewogen und an einem kurzen Workshop teilgenommen, bei dem sie Hilfsmittel (z.B. Küchentagebuch und Etiketten) und Informationen zur Reduzierung ihrer Lebensmittelabfälle erhielten. Die Gewinnerfamilie konnte ihre Lebensmittelabfälle um 95 Prozent reduzieren.
5. Bürger:innen als Multiplikator:innen
Wer ist besser geeignet, um Bürger:innen und private Haushalte anzusprechen, als die Bürger:innen selbst? Nach den erfolgreichen Erfahrungen mit den Themen Gemüseanbau und Kompostierung unterstützte die Region Brüssel-Hauptstadt die Ausbildung und den Aufbau eines Netzwerks von „Kühlschrankmeister:innen": In neun Modulen tauschten die Bürger:innen ihre Erfahrungen aus und erhielten verschiedene Tipps und Tricks zur Verringerung von Lebensmittelabfällen, vom besseren Haushalten mit Lebensmitteln, Kochgewohnheiten und Methoden der Lebensmittelkonservierung bis hin zum effizienten Einkauf in verschiedenen Geschäften. Sie wurden auch darin geschult, Veranstaltungen für die breite Öffentlichkeit zu moderieren – was sie mit einer Reihe von selbst entwickelten Instrumentenerfolgreich taten. Dazu gehörten Aktionen in den sozialen Medien sowie Kostproben vor..
6. Solidarität unterstützen
Nicht zuletzt bietet das Weitergeben von Lebensmitteln, die sonst weggeworfen würden, eine Möglichkeit mit anderen Menschen in Kontakt zu treten und Bedürftige mit Lebensmitteln zu versorgen. Hierbei können sogenannte Solidaritätskühlschränke helfen.
Ein Beispiel ist das „Food Share Cabinet“ in Estlands zweitgrößter Stadt Tartu. Um das Bewusstsein zu stärken, Lebensmittel für Bedürftige verfügbar zu machen und das, was sonst weggeworfen würde, umzuverteilen, wurden auf der Veranstaltung „Car Freedom Avenue" in Tartu mit Unterstützung des URBACT-Netzwerks Zero Carbon Cities temporäre Foodsharing-Schränke aufgestellt. Die Gastronom:innen der Veranstaltung konnten ihre übrig gebliebenen Lebensmittel teilen. Diese Strategie ist nun Teil der Maßnahmen der Stadtverwaltung von Tartu zur Verringerung der Lebensmittelabfälle in der Stadt in Zusammenarbeit mit lokalen Lebensmittelunternehmen.
Was kann Ihre Stadt als nächstes tun, um Lebensmittelverschwendung zu vermeiden?
Dieser Artikel hat eine Reihe von Konzepten, Instrumenten und Initiativen vorgestellt, die von Städten zur Verringerung der Lebensmittelabfälle in Haushalten eingesetzt werden. Diese stellen jedoch nur einen Teil des Ganzen dar. Lebensmittelverschwendung muss entlang der gesamten Lieferkette bekämpft werden.
Besuchen Sie unseren Food Knowledge Hub für weitere Informationen oder nutzen Sie die Materialien der Glasgow Food Declaration. Informieren Sie sich außerdem über bevorstehende Aktivitäten im Rahmen der aktuellen Horizon 2020 Projekte, die weitere Maßnahmen testen werden:
- Food Trails: https://foodtrails.milanurbanfoodpolicypact.org/
- FOODSHIFT2030: https://foodshift2030.eu
- Cities2030: https://cities2030.eu
- FUSILLI: https://fusilli-project.eu
- FoodE: https://foode.eu/
Was können Sie tun, um in Ihrer Stadt Abfall zu reduzieren? Lassen Sie es uns wissen - wir sind gespannt auf Ihre Erfahrungen – kontaktieren Sie uns über Twitter, Facebook oder LinkedIn.
Daten und Fakten:
- Bruxelles environnement (2020) Le gaspillage alimentaire
- EU barometer survey (2015) Flash Eurobarometer 425: Food waste and date marking
- Bonneau M. (2021) Changer les modes de gouvernance en appliquant de nouveaux cadres analytiques: le cas du gaspillage alimentaire à Bruxelles
- FAO (2013) Food wastage footprint - Impacts on natural resources
- Fusion (2016) Estimates of European food waste levels
- Zafra A. (2022) A FOOD WASTE URBAN APPROACH - To reduce the depletion of natural resources, limit environmental impacts, and make the food system more circular
Der Artikel basiert auf dem aus dem Englischen übersetzten Artikel “Six solutions for city authorities to help us all waste less food“ von Marcelline Bonneau. Übersetzung von Maximiliane Elspaß.
Submitted by Lilian Krischer on