You are here

Ändert Corona die Spielregeln für die Neue Leipzig-Charta?

Edited on

07 December 2020
Read time: 3 minutes

Schon lange vor dem Ausbruch von Covid-19 startete der Dialogprozess zum Schreiben der Neuen Leipzig-Charta. Zwingen die jüngsten Erfahrungen mit der Pandemie nun die deutsche EU-Ratspräsidentschaft dazu, ihre ganze Vision der künftigen Stadtentwicklung zu überdenken? Oder hebt Corona nur die Notwendigkeit der Prinzipien hervor, die in der Entwurfsversion der Charta bereits festgeschrieben sind? Wir sprachen mit Jonas Scholze, Geschäftsführer des Deutschen Verbandes für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung, um dem auf den Grund zu gehen.

Hintergrund

Am 1. Juli 2020 übernimmt Deutschland die EU-Ratspräsidentschaft für sechs Monate. Aus der letzten deutschen Präsidentschaft im Jahr 2007 ging die „Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“ hervor, die zu einem Meilenstein der EU-Stadtentwicklungspolitik geworden ist. Jetzt, zu einem günstigen Zeitpunkt für Europa, wird Deutschland die Charta während der Ratspräsidentschaft 2020 erneuern.

Jonas Scholze, Geschäftsführer des Deutschen Verbandes für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung und Leiter des EU-Büros in Brüssel, ist im Auftrag des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat direkt in den Erarbeitungsprozess der Neuen Leipzig-Charta involviert. Seine Überlegungen zu den letzten Entwicklungen und den Auswirkungen von Corona teilt er im Gespräch mit dem URBACT-Programmexperten Eddy Adams, der die „URBACT City Labs“ koordiniert hat, eine Veranstaltungsreihe mit praktischen guten Beispielen der Stadtentwicklung aus ganz Europa, die ebenfalls Teil des Prozesses zur Erarbeitung der Neuen Leipzig-Charta war.

Eddy: Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ist schon seit langer Zeit geplant. Warum habt ihr entschieden, die Leipzig-Charta neu zu erarbeiten?

Jonas: Schon vor der Pandemie standen Stadtentwicklungsthemen unter einem wachsenden Druck: „Fridays for Future“-Demos, Hitzesommer, der Umgang mit Geflüchteten, innerstädtische Fahrverbote, explodierende Mieten und Bodenpreise – all dies beherrschte bis vor Kurzem die Debatte. Es überrascht also nicht, dass diese Themen europaweit prominent diskutiert wurden und auch für die Vorbereitung der deutschen EU-Ratspräsidentschaft und damit der Neuen Leipzig-Charta, eine große Rolle spielten.

Eddy: … und dann hat Corona in unser aller Leben eingeschlagen wie eine Bombe. Ändert die Pandemie jetzt alles grundlegend?

Jonas: Nun, mit der Corona-Pandemie haben sich viele Vorzeichen quasi über Nacht verändert. Das hat uns zu der Frage geführt, ob wir deshalb eine Leipzig-Charta mit komplett anderen Zielen und Prinzipien brauchen. Fakt ist aber, dass Covid-19 ein noch stärkeres Schlaglicht auf städtische Belange geworfen hat – zum Beispiel auf städtische Dichte oder die Resilienz von Städten. Die aktuelle Entwurfsversion der Neuen Leipzig-Charta gibt darauf bereits die richtigen Antworten. Wir sehen zum Beispiel, dass eine integrierte, gemeinwohlorientierte und partizipative Stadtentwicklung, die ökologische, soziale und wirtschaftliche Ziele ausgleicht und verknüpft, wichtiger ist denn je.

Eddy: Es ist noch früh, um das zu beurteilen, aber was sind deiner Meinung nach die Auswirkungen von Covid-19 auf die Stadtentwicklung?

Jonas: Die Krise äußert sich in einer komplett neuen Lebenswirklichkeit der Menschen; ihre langfristigen Auswirkungen auf das städtische Zusammenleben lassen sich bestenfalls erahnen. Sie stellt die Entscheider in der Stadtentwicklung vor wichtige Fragen: Müssen wir die Probleme, die „gestern“ noch dominierten, ad acta legen? Und wie steht es mit unseren bewährten Leitbildern der Stadtentwicklung? Wird das Primat der Dichte und Kompaktheit künftig einer gesundheitsfördernden Entflechtung im Sinne des Gartenstadtmodells weichen? Gewinnen stadtregionale Versorgungsmodelle an Bedeutung? Und vor allem: Wie soll die Neue Leipzig-Charta, deren Entstehungsprozess beinahe abgeschlossen ist, auf die veränderte Lage eingehen?

Eddy: Du hast städtische Resilienz angesprochen. Verändert die Pandemie unser Verständnis von diesem Begriff?

Jonas: Ja. Die Resilienz von Städten erlangt mit Covid-19 eine ganz neue Bedeutung. In diesem neuen Kontext hängt Krisenfestigkeit eng mit dem Dreieck der Nachhaltigkeit zusammen. Kommunen mit einer funktionierenden Wirtschaft, umwelt- und klimafreundlichen Lösungsansätzen sowie einer sozial gerechten Stadtgesellschaft sind nachweislich robuster. Weitere Indikatoren „starker“ Städte sind Daseinsvorsorge-Dienstleistungen im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsbereich sowie digitale Infrastrukturen und Angebote. Auch ein gelungener Städte- und Siedlungsbau, hochwertige Grün- und Freiflächen, öffentliche Plätze, die zum Verweilen einladen, und funktionierende Nachbarschaften sind Resilienzfaktoren. Hinzu kommen Flexibilität und Anpassungsfähigkeit bei der Nutzung städtebaulicher Instrumente.

Eddy: Was bedeutet das für die Stadtverwaltungen in Europa?

Jonas: Corona zeigt einmal mehr, dass in unserer globalen, stark vernetzten Gesellschaft Ursache und Wirkung von Ereignissen nicht mehr geographisch zusammenhängen müssen. Covid-19 mag sich gerade weltweit ausbreiten – mit dem Virus umgehen müssen wir aber vor Ort. Diese „Handlungsfähigkeit“ unserer Städte ist allerdings vielerorts gefährdet: Es fehlte schon vor Corona in vielen Kommunen an Personal. Zudem wird der jetzt zu erwartende Einbruch der Steuereinnahmen gewaltige Ausmaße haben. Die Städte und Gemeinden brauchen deshalb Unterstützung – durch nationale Programme und Transferzahlungen, aber vor allem durch europäische Gelder, etwa aus den EU-Strukturfonds. Deren Bedeutung für integrierte Stadt- und Quartiersentwicklungs-Strategien ist heute wichtiger als je zuvor. Für den Umgang mit Krisen wie Covid-19 hilft darüber hinaus die europäische Zusammenarbeit und der Austausch zwischen Städten. Denn dies ermöglicht eine EU-weite Stärkung der kommunalen Kompetenzen. Vor allem die Partnerschaften der EU Urban Agenda und das Vernetzungsprogramm URBACT leisten in diesem Zusammenhang wertvolle Dienste.

Eddy: Das hört sich so an, als zeigte die Neue Leipzig-Charta in die richtige Richtung, oder?

Jonas: Um es zusammenzufassen: Die Ergebnisse, die bislang im europäischen und nationalen Dialogprozess zur Erarbeitung der Neuen Leipzig-Charta erreicht wurden, müssen keinesfalls umgeworfen werden: Sowohl das alte Dokument aus dem Jahr 2007, als auch die entstehende Neue Leipzig-Charta benennen mit dem integrierten, partizipativen und ortsbezogenen Ansatz grundlegende Prinzipien, die Städten helfen, resilient und anpassungsfähig zu werden.

Ein Kernelement der neuen Charta ist zudem die erwähnte gestärkte Handlungsfähigkeit der Kommunen, um eine gemeinwohlorientierte Stadtentwicklung zu gestalten. Gemeint sind damit insbesondere die Fähigkeit und die Ausstattung der Städte, Dienstleistungen und Infrastrukturen, Grund und Boden, den digitalen Wandel sowie eine nachhaltige Flächen- und Siedlungsentwicklung zum Wohle der Allgemeinheit zu steuern.

Eddy: Du beziehst dich auf einen ausgleichenden Ansatz. Was antwortest du denjenigen, die sagen, dass Wirtschaftswachstum für einen Aufschwung jetzt an erster Stelle stehen sollte?

Jonas: Die Krise ist noch lange nicht vorbei. Wir sollten also den Mut haben, Debatten neu zu führen. Dabei dürfen wir aber die bislang gültigen Konzepte und Ziele einer ökologischen Nachhaltigkeit nicht leichtfertig verspielen und zugunsten eines alleinigen Fokus‘ auf den wirtschaftlichen Wiederaufbau vernachlässigen. Denn genau diese Elemente tragen dazu bei, langfristig tragfähige Lösungen für die jetzige Situation und für zukünftige Herausforderungen entwickeln zu können.

Die Neue Leipzig-Charta wird am 30. November 2020 von den für Stadtentwicklung zuständigen Ministern der Mitgliedstaaten in Leipzig verabschiedet. Details zum Erarbeitungsprozess der Charta und zu den bisherigen URBACT City Labs finden Sie hier:

  • Dialog-Prozess im Auftrag des Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat und des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung:

Webseite des BBSR zum Projekt "Möglichkeiten und Strategien der EU-Ratspräsidentschaft 2020", in dessen Rahmen die Neue Leipzig-Charta erarbeitet wird.

  • URBACT City Labs:

Participatory approaches – September 2018 (Policy paper)
Sustainable urban development – July 2019 (Policy paper, Video)
Integrated approaches – October 2019 (Policy Paper, Video)
Place-based approaches – (Policy Paper available soon, Video)