Neuauflage der „Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“
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05 September 2019URBACT begleitet Dialogprozess mit verschiedenen Labs
Im Jahr 2007 haben die für Stadtentwicklung zuständigen Minister aller EU-Mitgliedstaaten die „Leipzig-Charta zur nachhaltigen europäischen Stadt“ verabschiedet. Sie ist in ihren wesentlichen Punkten bis heute gültig: Die Charta fordert eine Stärkung von integrierten Stadtentwicklungsansätzen und mehr politische Aufmerksamkeit für benachteiligte Stadtquartiere. Dies führte in der Praxis zu wichtigen Erfolgen. Deutschland profitierte von dem Papier in besonderer Weise – nicht nur, weil es unter deutscher Ratspräsidentschaft geschrieben wurde, sondern auch, weil es unsere nationale Stadtentwicklungspolitik mitbegründete. Heute stehen die Städte und Gemeinden Europas allerdings vor veränderten Herausforderungen und Rahmenbedingungen als vor zwölf Jahren. Dies macht ein Update des Leitdokuments notwendig. Zur deutschen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2020 wird die Leipzig-Charta deshalb im Rahmen eines Dialogprozesses auf deutscher und europäischer Ebene neu geschrieben. Auftraggeber sind das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat und das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung. Die Koordination des Prozesses übernimmt der Deutsche Verband für Wohnungswesen, Städtebau und Raumordnung (der im Übrigen auch die Rolle der URBACT-Kontaktstelle für Deutschland und Österreich innehat), zusammen mit dem europäischen Netzwerk EUKN und der BTU Cottbus-Senftenberg. Das URBACT-Programm begleitet den Dialog mit thematischen „City Labs“ und bringt damit die praktische städtische Perspektive von Kommunen aus ganz Europa in den Prozess ein.
Veränderte Herausforderungen
Die Erwartungshaltung auf EU-Ebene an die erneuerte Charta ist hoch, denn seit 2007 hat sich vieles getan. Diese Änderungen sind für alle europäischen Städte gleichermaßen von Bedeutung. Auf globaler Ebene bilden die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen und das Pariser Klimaschutzabkommen, beide aus dem Jahr 2015, wichtige Rahmensetzungen. Ein Jahr später wurde der Pakt von Amsterdam lanciert. Er konzipiert seine Städtische Agenda für die EU („Urban Agenda for the EU“) als Initiative der Mehr-Ebenen-Zusammenarbeit zwischen EU-Kommission, Mitgliedstaaten, Regionen und Kommunen, mit dem Ziel, Städte besser in EU-Politiken einzubeziehen. Damit hat der Pakt städtische Belange auf europäischer Ebene seit 2016 wesentlich stärker in den Fokus gerückt.
Durch die Wirtschafts- und Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 haben sich die Einkommens- und Vermögensunterschiede zwischen den Bürgern in den EU-Mitgliedstaaten vergrößert. Eine Folge davon ist der verstärkte Ruf nach einer gerechteren Wohn- und Bodenpolitik in den Großstädten. Erhöhte EU-Grenzwerte für den Ausstoß von Stickoxiden, Verpflichtungen zur Verminderung von CO₂-Ausstoß, „Dieselgate“ und innerstädtische Fahrverbote bestimmen heute die urbane Mobilitätspolitik; auf der ganzen Welt gehen junge Menschen für mehr Klimaschutz auf die Straße. Nicht zuletzt stellt die außer- und innereuropäische Zuwanderung, die 2015 in Deutschland einen vorläufigen Höhepunkt erreichte, die Kommunen vor große Integrationsaufgaben. Überlagert wird dies durch zwei Megatrends: den demographischen Wandel und die fortschreitende Digitalisierung aller Lebensbereiche, die beide tiefgreifende städtische und räumliche Transformationsprozesse auslösen.
Nationaler und europäischer Dialogprozess mit Experten
Neben einer wissenschaftlichen Grundlagenstudie, für die die BTU Cottbus-Senftenberg verantwortlich ist, ist ein Dialogprozess auf nationaler und europäischer Ebene Kernbestandteil bei der Erneuerung der Leipzig-Charta. Bei jeweils vier Sitzungen in Berlin und in Brüssel werden Themen, Prinzipien und Trends der integrierten Stadtentwicklung in Europa herausgearbeitet und auf ihre Zukunftsrelevanz hin geprüft sowie Entwürfe der Charta zur Diskussion gestellt. Den Auftakt bildete die erste nationale Sitzung im Juni 2018 in Berlin; die gemeinsame europäisch-nationale Abschluss-Sitzung wird im Frühjahr 2020 stattfinden, ebenfalls in der Bundeshauptstadt. Teilnehmer der Sitzungen in Deutschland sind Stadtentwicklungsexperten von Bund, Ländern und Kommunen, aus Wissenschaft und Forschung, sowie Verbändevertreter. An den europäischen Sitzungen nehmen vornehmlich Vertreter der Mitgliedstaaten, der Europäischen Kommission, des Parlaments sowie von europäischen Dachverbänden und Programmen teil.
Berlin: Quartier nach wie vor wichtige Handlungsebene
Die dritte nationale Experten-Sitzung fand am 23. und 24. Mai 2019 in Berlin statt. Dabei stand zum einen der räumliche Bezug der künftigen Charta im Fokus. Die Leipzig-Charta von 2007 forderte einen besonderen Handlungsbedarf für „benachteiligte Quartiere“. Dieser Schwerpunkt hat seine Berechtigung bis heute nicht verloren. Allerdings haben integrierte Quartiersansätze auch für weitere Themen wie Demografie, Mobilität oder Energie an Bedeutung gewonnen. Die Teilnehmer waren sich einig, dass das Quartier nach wie vor eine wichtige Handlungsebene für integrierte Stadtentwicklungsmaßnahmen ist: Allerdings wurde mehrfach die Forderung laut, dass weniger die Charakterisierung als vielmehr verschiedene Funktionen von Quartieren im Vordergrund stehen sollten. Auch müssten Quartier, Gesamtstadt und Umland besser verzahnt werden. Denn die Lebenswirklichkeit der meisten Menschen, also Wohnen, Arbeiten und Freizeit, spielt sich auf Ebene der Stadtregion ab. Am zweiten Tag diskutierten die Teilnehmer, welche rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen Städte auf kommunaler, nationaler und EU-Ebene brauchen, um die integrierten Prinzipien der neuen Charta überhaupt umsetzen zu können. Konsens war, dass Städte handlungsfähig sein müssen und genügend Spielraum brauchen, um ihren Aufgaben im Rahmen einer integrierten und nachhaltigen Stadtentwicklung nachzukommen.
Brüssel: Umsetzungsbasiertes Dokument gefordert
Bei der dritten europäischen Sitzung am 3. und 4. Juli 2019 in Brüssel präsentierte das Konsortium erste Textbausteine der Charta. Es kristallisierte sich heraus, dass einige Begrifflichkeiten noch geschärft bzw. besser definiert werden müssen, gerade, was ihre Übersetzung ins Englische betrifft. Zudem wurde von einigen Seiten angemahnt, die Fortschreibung der Urban Agenda for the EU besser in die Charta einzubetten und diese zudem „aktiver“ zu gestalten. Auch unterschiedliche Ansprüche wurden laut: Während die Charta aus deutscher Sicht ein politisches Strategiepapier sein soll, forderten manche Mitgliedstaaten ein umsetzungsbasiertes Dokument, eine praktische Handreichung für Städte. Hier gilt es, weiter zu schärfen und das Alleinstellungsmerkmal der erneuerten Charta besser herauszustellen. Die nächsten Sitzungen finden am 10./11. Oktober 2019 in Berlin und am 27./28. November 2019 in Brüssel statt. Dann wird erstmals der komplette Textentwurf der erneuerten Charta zur Diskussion stehen.
Beitrag des URBACT-Programms: Thematische "City Labs" mit europäischen Städten
Begleitend zum Dialogprozess führt URBACT eine Reihe von „City Labs“ durch, die sich an den Prinzipien der neuen Leipzig-Charta orientieren. Bei diesen Veranstaltungen kommen vor allem Städte aus ganz Europa zu Wort, stellen gute Praxisbeispiele vor und zeigen auf, welche Trends und Entwicklungen die Kommunen besonders antreiben, welche Lösungsansätze sie schon haben und wo sie noch politische Unterstützung brauchen. Das erste „Lab“ fand im September 2018 in Lissabon statt und beschäftigte sich eingehend mit dem Thema Beteiligung (siehe Ergebnisdokument hier). Denn einhergehend mit einem schwindenden Vertrauen in etablierte Institutionen in ganz Europa gewinnt man heute leicht den Eindruck, dass auch die Motivation der Bürger zur Partizipation sinkt, vor allem auf lokaler Ebene. Städte wie Madrid, Cascais bei Lissabon oder Danzig, die alle am Lab teilnahmen, zeigen allerdings mit innovativen Online- und Bürgerplattformen, dass sich die Menschen nach wie vor gerne einbringen, wenn es um ihre Stadt geht – vorausgesetzt, man spricht sie auf den richtigen Kanälen an und sie haben das Gefühl, gehört zu werden sowie wirklich etwas bewirken zu können.
Das zweite URBACT Lab, das angedockt an die Dialogsitzung am 2./3. Juli 2019 in Brüssel stattfand, lotete aus, was Städte für mehr Nachhaltigkeit („Sustainability“) tun und wo ihre Herausforderungen liegen. Egal ob bei überregionalen Verkehrskonzepten, wie sie die polnische Stadt Gdynia entwickelt, bei regionalen Ernährungskampagnen wie die der französischen Kleinstadt Mouans-Sartoux oder bei der eigenen lokalen Energieversorgung, wie sie die Stadt Viladecans in Katalonien, Spanien, ins Leben rief – nachhaltige Stadtentwicklung kann viel bewirken. Sie erfordert allerdings ein überzeugtes Handeln auf allen politischen Ebenen und vor allem starke Fürsprecher in der Leitungsebene. Diese müssen kritisch gesehene Maßnahmen zur „Chefsache“ machen und sie intern, aber vor allem in der Stadtöffentlichkeit aktiv vertreten.
Ausblick
Das nächste URBACT City Lab wird im Oktober in Warschau stattfinden. Den Abschluss der „Lab“-Reihe bildet dann das letzte Event im Frühjahr 2020 in Berlin, das voraussichtlich zusammen mit der finalen Sitzung des Dialogprozesses zur Leipzig-Charta stattfinden wird. Zwischenergebnisse und Feedback werden bis dahin kontinuierlich in den Dialog zur neuen Charta eingespeist. Bereits ab Herbst 2019 erfolgt zudem parallel die Abstimmung und Anpassung des Dokuments mit den europäischen Mitgliedstaaten. Die Verabschiedung der finalen Charta durch die zuständigen Minister wird dann in der zweiten Jahreshälfte 2020 erfolgen, natürlich wieder, wie es der Name schon sagt, in Leipzig.
Für den Artikel wurde auch auf Texte von Jonas Scholze (NUP), Eddy Adams und Marcelline Bonneau (beide URBACT) zurückgegriffen.
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