„Demokratie in Amerika?“ - Warum die Beteiligung an Kommunalwahlen in den USA so gering ist und was Europa davon lernen kann
Edited on
24 April 2018Von Fernando Fernandez-Monge
Der Historiker Alexis de Tocqueville ist im 19. Jahrhundert bei der Betrachtung der amerikanischen demokratischen Institutionen zu dem Schluss gekommen, dass die lokale Regierung eine der wichtigsten Säulen des neu gegründeten demokratischen Systems ist. Er zeigte sich damals beeindruckt von der Selbstverwaltung der Gemeinden in Neuengland. Heute, fast zwei Jahrhunderte nach Tocquevilles Beobachtungen, lässt sich allerdings feststellen, dass die lokale Demokratie in Amerika, wenn nicht tot, so doch schwer verwundet zu sein scheint.
Niedrige Wahlbeteiligungen bei Kommunalwahlen
Im November 2017 wurde Bill de Blasio von weniger als 14 Prozent der registrierten Wähler als Bürgermeister von New York (USA) wiedergewählt. Die geringe Quote reichte aber aus, um de Blasio die Wahl gewinnen zu lassen. Denn nur 21,7 Prozent der fünf Millionen registrierten Wähler der Stadt gaben ihre Stimme ab. Das mag überraschend klingen, ist aber eigentlich nicht ungewöhnlich. Eine Studie der Western Political Science Association von 144 großen US-Städten und 340 Bürgermeisterwahlen ergab eine mittlere Beteiligung von 25,8 Prozent. Andere Studien belegen sogar noch niedrigere Wahlbeteiligungen.
Europäische Länder schneiden bei kommunalen Wahlbeteiligung deutlich besser ab als die USA. Zu früh freuen sollten sie sich aber dennoch nicht. Auch in Europa zeigt sich ein gewisser Vertrauensverlust der Öffentlichkeit in die Regierung. Viele Länder weisen sogar niedrigere Werte auf als die USA. Einige Kommunalregierungen – insbesondere in den nordischen Ländern – stützen sich auf eine lange Geschichte von Dezentralisierung und einer starken Regierung. Andere Orte stehen dagegen dem Verlust der Legitimität auf nationaler Ebene gegenüber. Die schwindende Wahlbeteiligung bei den Kommunalwahlen hat allerdings zu interessanten Modellen bei der direkten parlamentarischen und deliberativen, also der „beratschlagenden“, auf Teilhabe beruhenden Demokratie geführt, die, wie URBACT-Artikel dies bereits häufiger belegten, durch den Einsatz digitaler Instrumente verstärkt wurden.
Trotz der Erweiterungen beim „demokratischen Instrumentarium“ in den Kommunalregierungen können immer Hindernisse beim Aufbau einer inklusiver Gesellschaften entstehen. Es wäre klug, wenn die europäischen lokalen Regierungen die Gründe und die Folgen einer zu niedrigen Wahlbeteiligung in den USA untersuchen würden, bevor es für sie zu spät ist.
Gründe für die niedrige Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen in den USA
Was sind die Gründe für die niedrigen Wahlbeteiligungen in den USA? Teilweise liegt es an der institutionellen Gestaltung der US-Kommunalwahlen, wie etwa der Form des Verwaltungsrats oder den schwerfälligen Arbeitsprozessen in den städtischen Ämtern. Der Zeitpunkt der Wahlen spielt ebenfalls eine Rolle. Lokalwahlen, die mit Wahlen auf nationaler Ebene zeitlich zusammenfallen, zeigen höhere Beteiligungsquoten auf. Dieses Muster ist auch in Ländern wie dem Vereinigten Königreich oder Deutschland zu beobachten. Einer der Gründe liegt darin, dass Kommunalwahlen nicht die Medienaufmerksamkeit beanspruchen, wie beispielsweise Wahlen auf der nationalen Ebene. Stehen keine größeren Wahlen an, fehlen den Menschen schlicht Informationen über lokale Abstimmungsprozesse und genügend Anreize, wählen zu gehen.
Vor diesem Hintergrund haben bestimmte Amtsinhaber einen wichtigen Vorteil gegenüber ihren Herausforderern: Die Herausforderer müssen den Wählern erst deutlich machen, warum es so wichtig ist, ihre Stimme abzugeben. Trotz des oft gepriesenen Pragmatismus vieler Bürgermeister mobilisieren kleinere, ideologisch weniger differenzierte Wahlen weniger Menschen. Die Wahlbeteiligung fällt noch geringer aus, wenn sich amtierende Bürgermeister zur Wiederwahl stellen oder wenn Wahlen nicht parteispezifisch sind.
Manchmal ist die komplizierte Gestaltungen der Kommunalwahlen auf gezielte Strategien der amtsinhabenden Regierungskoalition zurückzuführen, die den Wettbewerb einschränken wollen. In anderen Fällen stammen sie aus der Zeit der Reformationen: Anfang des 20. Jahrhunderts wurde der Versuch unternommen, Korruption und Vetternwirtschaft in amerikanischen Städten zu bekämpfen. Die Reformer änderten „die Wahlstruktur unter dem Vorwand, die Städte effizienter zu machen. Damit entzogen sie aber Geringverdienern und ethnischen Minderheiten effektiv das Wahlrecht.“
Auswirkungen städtischer Ungleichheiten
Diese unausgewogene Wahlbeteiligung setzt sich bis heute fort und wirkt sich stark auf städtische Ungleichheiten aus. Ein Bericht der Universität des US-Staates Portland über die Wahlbeteiligung in 50 Städten, einschließlich der 30 bevölkerungsreichsten Städte der USA, ergab, dass die Wahlbeteiligung je nach ethnischer Zugehörigkeit, gesellschaftlicher Schicht und Altersgruppe sehr unterschiedlich ausfällt. Minderheiten, Geringverdiener und jüngere Menschen gehen seltener wählen. Der Verlust ihrer Stimmen erhöht gleichzeitig die Barrieren zur Wahlbeteiligung. Eine Unterrepräsentation dieser Bevölkerungsschichten bei Wahlen führt dann dazu, dass weniger Maßnahmen zur Sozialsicherung beschlossen werden, die diese (nicht-)wählenden Gruppen begünstigen würden.
Ein Teufelskreis entsteht. Bestimmte Gruppen gehen nicht wählen, weil sie denken, dass ihre Stimme nicht zählt. Die regierenden Eliten haben daher keine Anreize, auf die Bedürfnisse dieser Gruppen einzugehen. Das wiederum erfüllt die schlimmsten Befürchtungen dieser (Nicht-)Wähler. Es ist sogar möglich, dass Regierungskoalitionen noch einen Schritt weiter gehen und die Waage nochmals zu eigenen Gunsten beeinflussen. Die Autorin Jessica Trounstine betont in diesem Zusammenhang die Befangenheit als den ausschlaggebenden Faktor. Sie beschreibt drei Arten von Befangenheit: Informationsbefangenheit (Eigentum von Medien, unparteiische Wahlen usw.), Befangenheit der Wähler (Bestechung, Änderung der Voraussetzungen für eine Kandidatur, Registrierungserfordernisse für Wähler usw.) und Befangenheit in der Verteilung der Regierungssitze (Manipulationen der geographischen Wahlbezirke, Zusammenschluss oder Teilung von Nachbarschaften usw.).
Überraschenderweise wird der Aspekt der niedrigen Wahlbeteiligung amerikanischer Städte von Experten nur selten in Betracht gezogen, obwohl er viele Widersprüche erklären kann, mit denen sie sich beschäftigen. Beispielsweise weist der Autor Richard Florida in seinem neuesten Buch auf die Ironie hin, dass die ungleichen und stark segregierten Städte in den USA in der Regel einen liberalen Bürgermeister haben. Da gewöhnlich die Demokraten in diesen Städten bereits seit längerem an der Macht sind, hätte die Umverteilungspolitik, für die die Partei einsteht, diese Ungleichheiten beseitigen müssen. Vielleicht sind sie doch weniger progressiv als es ihr Titel vermuten lässt – oder aber sie reagieren doch nur auf die Erwartungen der wenigen, die sie gewählt haben.
Natürlich gibt es auch andere Faktoren, wie beispielsweise gesetzliche Regelungen, die den Handlungsrahmen der lokalen Regierungen zur Behebung von Ungleichheiten einschränken. Andere Menschen, wie z. B. der Wirtschaftsprofessor Ed Glaeser würden argumentieren, dass aufgrund der wirtschaftlichen Möglichkeiten Ungleichheit ein Indikator für die Attraktivität von Städten für Menschen mit niedrigem Einkommen ist. Es ist jedoch auch klar, dass eine einfache ideologische Politikgestaltung dieses Paradox nicht erklären kann. Die Machtdynamik und die damit verbundene Politikgestaltung kommunaler Regierungskoalitionen müssen noch viel genauer analysiert werden, und zwar mit einem Augenmerk auf das Wahlverhalten der Bürger und auf die Befangenheits-Strategien.
Dieser Appell an die politische Ökonomie der städtischen Regierung steht im Gegensatz zum Optimismus über lokale Regierungen von Autoren wie Benjamin Barber oder, in jüngerer Zeit, die des Konzepts des Neuen Lokalismus, geprägt von Bruce Katz und Jeremy Nowak. Städte handeln sicherlich lösungsorientiert und sind oft Orte des Fortschritts im Vergleich zu den langsamen und politisierten nationalen Regierungen. Jedoch wird die Energie zu oft darauf konzentriert den Kuchen „zu vergrößern“, anstatt ihn zu teilen. Wer also von diesen Innovationen und wirtschaftlichem Wachstum profitiert, hängt stark davon ab, wessen Stimme gehört wird (entweder durch Wahlen oder durch andere Mechanismen). Somit kann ohne Stimme der Neue Lokalismus zum „Lokalismus der Wenigen“ werden.
Regierung der Menschen, durch die Menschen und für die Menschen
Für Tocqueville war die Gleichheit aller Amerikaner ein wesentlicher gesellschaftlicher Bestandteil des in der Form damals noch neuartigen demokratischen Systems. Gleichzeitig sah er in den Gesetzen der Demokratie die natürliche Tendenz, das Interesse der Bevölkerungsmehrheit zu fördern und die Konzentration von Macht und Reichtum auf einige wenige zu verhindern. Wenn diese Balance zwischen Gleichheit und Demokratie durch eine Änderung von Regeln oder Institutionen gestört wird, kann der Kreislauf leicht in eine Abwärtsspirale abgleiten.
Bei all den Diskussionen über Ungleichheit wird der Zusammenhang zwischen Demokratie und materieller Gleichstellung selten erwähnt. Es wird also schwierig sein, eine integrative Gesellschaft zu schaffen, wenn nicht die Stimmen aller gehört werden und nur einige wenige von politischen Entscheidungsträgern gehört werden. Es könnte an der Zeit sein, in die Geschichte zurückzuschauen und nach Lösungen zu suchen. Nach Lösungen, um diejenigen demokratischen Institutionen wieder herzustellen, die einst eine Regierung der Menschen, durch die Menschen und für Menschen schufen.
Den englischen Originalartikel finden Sie hier: http://www.blog.urbact.eu/2018/04/democracy-in-america/
Submitted by hmages on