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Inspiration aus Portugal: Der Bürgerhaushalt in Cascais

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29 August 2019
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Wie der Bürgerhaushalt in der portugiesischen Mittelstadt zum Fundament für ein neues Demokratieverständnis wurde – vor allem auf Seiten von Politik und Verwaltung.

Der URBACT-Programmexperte Eddy Adams schaute sich vor Ort an, was den Bürgerhaushalt in Cascais, Portugal, zu einem der effektivsten Modelle seiner Art macht und der Stadt die Auszeichnung als URBACT Good Practice einbrachte. Es zeigte sich, dass das partizipative Budget nur das Fundament für eine Reihe weiterer Maßnahmen ist, die Bürgerbeteiligung und Engagement in der Stadt fördern.

Die meisten Stadtangestellten wären damit zufrieden, einen der erfolgreichsten Bürgerhaushalte Europas ins Leben gerufen zu haben. Aber Isabel Xavier ist nicht wie die meisten Stadtangestellten. Trotz des Erfolgs des partizipativen Haushalts in Cascais sieht sie ihn als Teil eines umfassenderen Prozesses zur Einbettung und Aufrechterhaltung demokratischer Prozesse in der Stadt. Oder wie sie es ausdrückt: "Der Bürgerhaushalt ist ein Produkt. Früher oder später wird er vielleicht wieder Geschichte sein - und das ist in Ordnung. Er wird seinen Moment haben, der vorübergehen wird, aber für uns ist er vor allem auch eine Plattform, um andere Dinge zu generieren."

In der Zwischenzeit entwickelt sich das Modell des partizipativen Budgets in Cascais ständig weiter. Es wurde 2011 als Reaktion auf die rückläufige Wahlbeteiligung in den Kommunen ins Leben gerufen und hat mit rund 15% den größten Anteil am Investitionshaushalt einer Stadt von allen Modellen in Europa. Bei der letztjährigen Evaluierung des Bürgerhaushalts wurden allerdings Schlüsselgruppen identifiziert, die von ihrer Chance, sich zu beteiligen, keinen Gebrauch machten. Dazu gehörten auch einige der bereits am meisten marginalisierten Gruppen der Stadtbevölkerung.

Alle BürgerInnen erreichen

Als Reaktion darauf wurden spezifische Maßnahmen ergriffen, um mehr mit Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen in Kontakt zu treten. Dazu gehörten zum Beispiel Veranstaltungen am Nachmittag, bei denen die Betreuer häufiger zur Verfügung standen. Die Stadt konzipierte zudem gezielte Vorbereitungssitzungen, um sicherzustellen, dass sie aktiv zu den Bürgerhaushaltssitzungen beitragen konnten. Die Ergebnisse waren erfreulich. Denn behinderte Menschen haben nicht nur mitabgestimmt, sondern auch aktiv Projektideen eingebracht - wie das Konzept für einen Sinnesgarten von einer Gruppe sehbehinderter Bürger.

Die aktive Ansprache der Stadt erstreckte sich auch auf Menschen in Altenpflegeheimen sowie auf Langzeitarbeitslose, die oft sozial isoliert sind. Außerdem wurde das Mindestalter zur Teilnahme auf zwölf Jahre gesenkt und dabei dafür gesorgt, dass die Kinder getrennt von ihren Eltern wählen, um ihre Unabhängigkeit zu gewährleisten.

Fokus liegt auf jungen Menschen

Junge Menschen bleiben auch über die schulische Komponente des Bürgerhaushalts aktiv eingebunden. Jede Schule verfügt über ein Budget von 10.000 Euro für ihre eigenen ausgewählten Ideen. Darüber hinaus können junge Menschen im Rahmen des regulären Bürgerhaushaltbudgets Vorschläge unterbreiten, und in den letzten Jahren wurden drei von diesen ausgewählt. Es handelte sich um digitale Bushaltestellen (WIFI-fähige Unterstände mit Solarladesteckdosen) "Soziale Bänke", auf denen sich Jugendliche treffen (und auch ihre Geräte aufladen können) und ein Jugendkino-Festival.

Diese Vorschläge von Jugendlichen und Behindertengruppen sind ein Teil des Grundes, warum immer wieder neue Gruppen der Gemeinschaft mit neuen Ideen aufwarten. Im vergangenen Jahr haben 50% der Antragsteller erstmals Ideen in den Bürgerhaushalt eingebracht.

Dennoch scheint es, dass dieser phänomenale Anschub der Bürgerbeteiligung noch nicht zu einer höheren Wahlbeteiligung geführt hat. Isabel Xavier ist da ganz entspannt - und nicht wirklich überrascht. Sie stellt fest, dass die Menschen nach wie vor weitgehend desinteressiert an formaler Politik sind, erwartet aber, dass vor allem die Arbeit in den Schulen schließlich Wirkung zeigen wird:

"Wir glauben nicht, dass wir die Auswirkungen auf die Wahlen schon sehen können. Der Bürgerhaushalt von Cascais ist wichtig, aber wirkt nicht umgehend strukturell. Die allgemeinere Arbeit in den Schulen ist dagegen struktureller angelegt, und ich denke, das wird schließlich auch bei der Wahlbeteiligung einen Unterschied ausmachen."

Die angesprochene Arbeit in den Schulen ist mehrstufig. Ein wichtiges Element sind Schulbesuche des Bürgermeisters und seines Stellvertreters, um jungen Menschen im Rahmen der Veranstaltungsreihen "Sag es uns" in den Grundschulen und "Stimme der Jugend" in den Sekundarschulen aktiv zuzuhören.

Die Stadt findet auch andere Wege, um junge Menschen für die Funktionsweise der politischen und administrativen Maschinerie zu sensibilisieren.  Zum einen soll der "City Masterplan" als Gesprächsgrundlage für Geographie-Studenten genutzt werden. Dies verlangt von Planern, dass sie ihre Ideen greifbar und ohne zu viel "Fachsprech" erklären und ermöglicht gleichzeitig, die Studenten praxisnah über den Planungsprozess zu informieren.

Fachleute und Politiker mit größtem "Aha-Effekt"

Im Rahmen dieser Maßnahmen zeigten sich auch eines der interessantesten - und vielleicht überraschendsten - Ergebnisse des gesamten Bürgerhaushaltsprozesses. Dieses ist die wachsende Erkenntnis unter Fachleuten und Politikern über den Wert eines aktiven bürgerschaftlichen Engagements. Isabel Xavier stellt fest, dass "der Bürgerhaushalt wirklich dazu beigetragen hat, die Einstellung von städtischen Fachleuten und Politikern zur Öffnung und Einbeziehung der Bürger zu ändern. Sie waren immer wieder überrascht, wie viel die Leute wissen - und wie interessiert sie sind."

Die Auswirkungen dieser Entwicklung zeigen sich in verschiedenen Teilen der kommunalen Politik und Verwaltung. Das Gesundheitsamt hat einen Mechanismus zur Wahl von zwei Laien in seinem leitenden Entscheidungsgremium initiiert. Gleichzeitig entwickelt das lokale Bildungswesen Wege, um Schüler und Lehrer in seine Strukturen einzubeziehen.

Der Bürgerhaushalt der Stadt war eindeutig kein Selbstzweck. Vielmehr erweist er sich als Katalysator für einen breiteren Veränderungsprozess auf lokaler Ebene. Dies gibt den Bürgern nicht nur ein besseres Verständnis dafür, wie Entscheidungen getroffen werden, sondern bietet auch die Möglichkeit, eine aktive Rolle zu übernehmen.

Die Arbeit der Stadt wurde bereits als URBACT Good Practice anerkannt und ihre Arbeit wurde im ersten URBACT City Lab vorgestellt, das sich mit Partizipation beschäftigte. Aber die Stadt setzt weiter neue Maßstäbe, nicht nur in der Stadt, sondern zunehmend auch auf globaler Ebene. Im Oktober 2019 wird in Cascais die zweite Smart Citizenship Academy stattfinden, bei der Experten aller Aspekte der Demokratie und der zivilgesellschaftlichen Mitbestimmung voneinander lernen können. BREXIT, Bolsonaro und Künstliche Intelligenz werden allesamt unter die Lupe genommen, während die Teilnehmer den ersten Atlas der Bürgerhaushalte erstellen werden.

Cascais untermalt den eigenen Ruf als Labor für Demokratie und Partizipation damit weiter und bleibt ein inspirierendes Beispiel dafür, wie auch Mittelstädte zum Vorreiter werden können.