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Geschlechtergerechte Städte: Ein Spaziergang im Park?

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14 November 2018
Read time: 4 minutes

Von Sally Kneeshaw und Jenna Norman

Die Gleichstellung der Geschlechter ist im Jahr 2018 zum Politikum geworden und hat dazu geführt, dass Institutionen in der ganzen Welt einen genaueren Blick darauf geworfen haben, wie Frauen und Männer in persönlichen, beruflichen und öffentlichen Bereichen interagieren. Was aber bedeutet das für die europäischen Städte? Die neue URBACT-Initiative „Geschlechtergerechte Städte“ hat beim URBACT City Festival in Lissabon im September 2018 einige Antworten auf diese komplexe Frage gegeben. Bei einer halbtägigen Exkursion haben wir eine Analyse des Lebensumfelds in der Stadt gemacht und uns gefragt, warum Frauen und Männer den öffentlichen Raum unterschiedlich erleben – und vor allem, was getan werden muss, um sichere, integrative geschlechtergerechte Städte zu schaffen.

Ein Vormittag in Lissabon

Als wir in der Hitze des späten Vormittags losgingen, entfaltete Lissabon sozusagen seine ganze geschlechterspezifische Komplexität vor uns: Ältere Frauen schleppten schwere Einkäufe die steilen Pflastersteinstraßen hinauf, machten Pausen und lehnten sich an die weißverputzten Mauern, um ein bisschen Schatten zu finden. Eine der vielen jungen Tuk-Tuk-Fahrerinnen schoss vorbei. Sie machte gerade eine Stadtrundfahrt mit Touristen und lotste die Gruppe durch den chaotischen Verkehr von Straßenbahnen, Bussen und Autos, die – im Gegensatz zu den Tuk-Tuks - fast alle von Männern gelenkt wurden. Bauarbeiter und Polizisten bevölkerten den Gehsteig, rauchten ihre 11-Uhr-Zigarette und schauten der jungen Frau hinterher. Als die Fahrerin mit ihrer Gruppe schließlich einen großen Platz überquerte, wo Mütter mit ihren Kindern am Fuß von Militärstatuen der Kolonialzeit spielten, dachte sie bestimmt nicht darüber nach, wie sehr diese Umgebung ihre Ambitionen, Interessen oder Finanzen beeinflusst hat. Denn das ist sicherlich eine der am wenigsten beachteten Perspektiven des städtischen Lebens, eine, die die neue URBACT-Initiative „Geschlechtergerechte Städte“ aber jetzt untersuchen möchte.

Die geschlechterspezifische Stadt

Wir wissen, dass Städte die Verwaltungseinheit sind, die dem Alltag und den Bedürfnissen der Bürger am nächsten sind. Sie sind oft der größte lokale Arbeitgeber und haben eine grundlegende Kontrolle über öffentliche Dienstleistungen. All diese Faktoren bieten ihnen die Möglichkeit, aktiv zu werden und Ungerechtigkeiten zwischen den Geschlechtern zu überwinden – aber unser kurzer Spaziergang durch die Stadt zeigte, dass es immer noch viel zu tun gibt. Schummerige Straßenbeleuchtung, bei der Frauen sich unsicher fühlen könnten; sexistische Werbeplakate, die negative Stereotypen reproduzieren; Statuen, die einen Männlichkeitswahn zelebrieren, ein Straßenverkehr, der Autos über Fußgänger stellt – es ist nicht schwer zu erkennen, mit was Behinderte, Frauen, Eltern und ältere Menschen in einer Stadt zu kämpfen haben. Diese Probleme zu erkennen ist aber der erste Schritt, um sie zu lösen. Die 40 europäischen Stadtentwicklungs-Experten, die an unserer Exkursion durch Lissabon teilnahmen, teilten ihre Eindrücke; oft verknüpften sie die Beobachtungen in der portugiesischen Hauptstadt mit Erfahrungen in ihren eigenen Städten. Während der Feedback-Session sprachen einige Frauen über Strategien, die sie entwickelt haben, um sicherer durch die Stadt zu kommen: bestimmte Straßen meiden und dadurch Umwege gehen oder das eigene Verhalten anpassen, z. B. sich anders anziehen um Belästigungen oder Vergewaltigungen zu vermeiden. Eine Gruppe merkte an, dass die Repräsentanz von Frauen und Männern im öffentlichen Raum sehr unterschiedlich ist: Straßen sind meistens nach berühmten Männern benannt, die einzigen Frauen, die es Wert zu sein scheinen, Straßen ihren Namen zu geben, sind Heilige oder Königinnen. Eine andere Gruppe diskutierte die Geschlechterperspektive des in Lissabon sehr sichtbaren Tourismus-Booms. Wer besitzt die Wohnungen, mit denen jetzt durch AirBnB Geld gemacht wird? Welche Art von Jobs für Frauen generiert der Tourismus? Was wird gegen den schwindenden öffentlichen Raum für Familien im ganzen Innenstadtbereich getan?

Teilhabe: Ein Stuhl an allen Tischen

Die Exkursion zeigte den Bedarf an Beteiligungsansätzen für eine geschlechter-sensible Stadtplanung. Die am Rundgang teilnehmende portugiesische NGO, zu der die Portugiesische Plattform für Frauenrechte, Frauen ohne Grenzen und die Nationale Vereinigung weiblicher Architekten zählen, betonte, dass die Stadt öfter auf sie zukommen und ihre Expertise im Bereich Geschlechtergerechtigkeit anerkennen sollte, die die NGO bei Diskussionen in verschiedenen Politikfeldern einbringen könnte. NGOs arbeiten eng mit Frauen verschiedener Herkunft, aus allen sozialen Schichten und Altersklassen zusammen. Sie haben die einzigartige Position, sie ganz einfach über ihre Bedürfnisse in der Stadt befragen zu können. Grundlegend ist dies zunächst mal eine Frage der Repräsentanz: Die Erfahrungen und die Stimmen von Frauen müssen im Stadtrat und der Stadtplanung vertreten sein um ihr „Recht auf die Stadt“ wahrzunehmen. Dieses Grundbedürfnis nach Repräsentation, Konsultation und Daten, aufgesplittet nach Geschlechtern, wurde von allen betont. Das sind Prozesse, die oft nur die Zivilgesellschaft unterstützen kann.

Dank des von URBACT ausgezeichneten guten Beispiels aus Umea (Schweden) wissen wir, wie das in der Praxis aussehen und funktionieren kann. Um Frauen dabei zu helfen, öffentliche Sportstätten in der Stadt zurückzuerobern, machte die Stadt eine umfassende Umfrage und erkannte, dass in diesem Bereich manchmal auch Orte gebraucht werden, die ausschließlich für Frauen sind. Wie die Nationale URBACT Informationsstelle für Schweden erklärte, sind einfache Dinge wie hellere Straßenbeleuchtung und niedrigere Parkbänke nicht teuer und ein einfacher Weg, den öffentlichen Raum zu demokratisieren und von Bottom-Up-Initiativen zu lernen. Die Frauen von der Portugiesischen Plattform für Frauenrechte, die Frauen ohne Grenzen und die Nationale Vereinigung weiblicher Architekten betonten außerdem, dass diese Beziehung gegenseitig sein muss: Um Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen brauchen NGOS die Städte genauso wie die Städte die NGOs brauchen. „Wir können nicht einfach darüber reden, wie NGOS die Städte erreichen können, die Städte müssen auch auf die NGOS zugehen“, so Alexandra Silva von der Portugiesischen Plattform für Frauenrechte.

Verbindungen eingehen: Multilevel Governance ist entscheidend

Um Lösungen für die Herausforderungen zu finden, die wir bei unserer Exkursion in Lissabon beobachtet haben, und die in den meisten europäischen Städten ihre Entsprechung finden, haben wir eine Diskussion über die Rolle von lokalen, nationalen und internationalen Rahmenbedingungen angeregt. Glücklicherweise beteiligten sich auch regionale Repräsentanten von europäischen Netzwerken an der Debatte, darunter URBACT und der Rat der Gemeinden und Regionen Europas (RGRE), Lokalpolitiker und nationale Frauenvereinigungen. Teresa Vicente, Gleichstellungsbeauftragte in Cascais, einer katalanischen Stadt, die die Charta des RGRE für Gleichberechtigung unterschrieben hat, erzählte, wie ihre Arbeit zum geschlechtersensiblen Kommunikationstraining und zum Umgang mit häuslicher Gewalt in jungen Beziehungen an die globale Bewegung für Frauenrechte anknüpft. Alle Akteure hatten die gleiche Botschaft: Wir brauchen einander. Wir müssen zusammenarbeiten und uns gegenseitig unterstützen.

Wenn Geschlechtergerechtigkeit bedeutsam und nachhaltig sein und verschiedene Dimensionen der Diskriminierung berücksichtigen soll, müssen wir lokale Initiativen intelligenter mit europäischen und globalen Netzwerken verbinden. Dokumente wie die „Charta für Gleichberechtigung“ des RGRE oder das nachhaltige Entwicklungsziel (SDG) 5 zur Geschlechtergleichberechtigung in der Urban Agenda der Vereinten Nationen bieten den notwendigen hochrangigen politischen Willen, um die Dynamik am Laufen zu halten und Städte für die Schaffung von Geschlechtergleichberechtigung zur Verantwortung zu ziehen. Bei der Exkursion in Lissabon wurde deutlich, dass Städte hier eine Rolle spielen müssen: Es gilt zunächst, diese Dokumente für ihre Bürger zu übersetzen, Sprach- und Jargon-Barrieren zu beseitigen und die Botschaft auf den lokalen Hintergrund anzupassen. Netzwerke und Austausch auf nationaler Ebene können ebenso zum Lernen darüber beitragen, was funktioniert, um Geschlechtergerechtigkeit in verschiedenen kulturellen Kontexten zu etablieren.

Städte für alle

Es gibt viele Instrumente für Städte, um Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen. Die 30 Artikel der europäischen Charta des RGRE erklären genau, welche konkreten Maßnahmen Städte dafür ergreifen können. Als Arbeitgeber kann das bedeuten, gleiche Bezahlung, flexible Arbeitszeiten und Aufstiegschancen für Frauen bereitzustellen. Öffentliche Dienstleister können Frauen befragen um sicherzugehen, dass ihre Dienste wirklich auf die Bedürfnisse ALLER Bürger ausgerichtet sind. Für Schulen und Universitäten kann es heißen, negative Geschlechter-Stereotypen zu dekonstruieren.  

Was wir in Lissabon gelernt haben war: Wenn wir unsere Augen aufmachen, finden wir überall um uns herum Belege dafür, wie geschlechterspezifisch Städte ausgerichtet sind. Wir haben auch gesehen, dass Städten eine Schlüsselrolle zukommt, sie aber nicht alleine agieren können. Als Vermittler und Moderatoren zwischen globalen Zielen, der europäischen Agenda, nationaler und lokaler Politik, Bottom-up-Initiativen und den Frauen selbst können Städte einen großen Schritt voran machen, hin zu integrierten Städten für alle.

Alle Fotos: URBACT City Festival Lissabon, September 2018, © URBACT

Zum englischen Originalartikel von Sally Kneeshaw und Jenna Norman