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Einzelhandel als Herz der lokalen Wirtschaft - RetaiLink untersucht Einzelhandelskonzepte für mittelgroße Städte

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24 November 2016
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Es gibt zahlreiche Studien und Erfolgsgeschichten von der Beziehung zwischen Einzelhandel und lokaler Wirtschaft in größeren Städten. Viel schwieriger ist es, solche Beispiele aus mittelgroßen Städten zu finden. Genau damit aber beschäftigt sich das RetaiLink-Netzwerk, auf dessen Ergebnissen dieser Artikel basiert.

von Anna Suarez

Neue Einzelhandels-Konzepte

Während der 1980 und 1990er Jahre übernahmen viele mittelgroße Städten in Europa ein Einzelhandels-Modell, das auf dem Bau von großen Einkaufszentren und Freizeitbereichen außerhalb der Städte basierte. Dadurch wurde das traditionelle Einzelhandels-Angebot aus den Innenstädten wegverlagert und zerstreut. Die Umsetzung dieses Stadtrand-Modells veränderte in vielen Fällen die Einzelhandels-Landschaft mit dem Ergebnis, dass viele Städte mit einem rückläufigen Einzelhandel in ihren Innenstädten und damit bald auch mit leeren Ladengeschäften zu kämpfen hatten, da viele Inhaber-geführte Geschäfte schließen mussten. Aktuelle lokale Trends zeigen allerdings, dass die Einkaufszentren auf der grünen Wiese mittlerweile auch oft vom Verfall bedroht sind. Etwas läuft falsch, neue Geschäftsmodelle sind gefragt.

HANDEL = VERTRIEB: Heutzutage überlappen sich Handel und Vertrieb immer mehr, trotz der offensichtlichen methodologischen Unterschiede zwischen Einzel- und Großhändlern. Ihre Unterscheidung, genau wie ihre Verbindung zu den Herstellerfirmen, verwischt immer mehr, da sie sich gemeinsam und in Echtzeit entlang der Lieferketten bewegen: Einzelhändler produzieren und vertreiben immer häufiger ihre eigenen Produkte und der Großhandel nähert sich den Kunden immer weiter an, was hauptsächlich durch den Online-Handel befördert wird.  

FRANCHISING: Die Spezialisierung großer Marken scheint im Handel Boden zu gewinnen, während Händler, die verschiedene Marken vertreiben, immer mehr verschwinden. Franchising hat sich deshalb als weitverbreitetes Geschäftsmodell etabliert: In jeder Fußgängerzone und jedem Einkaufszentrum in ganz Europa finden sich dieselben Marken-Geschäfte.

GRÖSSENVORTEILE UND INDIVIDUALISIERUNG: Zu den Faktoren, die die Geschäftsmodelle verändern, gehören auch die Informations- und Kommunikationstechnologie (ICT) und die Suche nach mehr Effizienz durch Größenvorteile („Skaleneffekte“). Wichtig ist in diesem Rahmen auch ein differenziertes, vielgestaltiges Angebot für die Kunden: Anbieter müssen den vielen verschiedenen Kunden gerecht werden, die die Größenvorteile mit sich bringen; gleichzeitig dürfen sie aber auch nicht die attraktive, personalisierte Kundenerfahrung dem Massenangebot opfern.

NEUE HANDELSSTRATEGIEN: Die letzte Erschütterung des traditionellen Handelsmodells ist auf neue Handelsstrategien zurückzuführen. Dazu zählen z. B. das Multichannel-Retailing (Verkauf über verschiedene Vertriebskanäle), bahnbrechende Technologien und der Druck, innovativ zu sein. Der Wettbewerb hat sich transformiert, weg von einer Auswahl an Produkten und Preisen hin zu einem Kanal, der Shopping Formate, Dienstleistungs-Ebenen und Einkaufserlebnisse anbieten muss.

Digitalisierung und ICT-Instrumente für eine integrierte Handels-Erfahrung (und warum unsere Städte sich damit beschäftigen sollten)

EINKAUFEN RUND UM DIE UHR: Heute können wir jeden Tag der Woche 24 Stunden lang einkaufen. Möglich machen dies die Digitalisierung und Instrumente der Informations- und Kommunikationstechnik (inklusive der Standortbestimmung für ein ausgewähltes und personalisiertes Dienstleistungs-Angebot), der elektronische Verkauf über Computer, Smartphones oder Tablets sowie neue kundenorientierte Dienstleistungen der Zustellung und Abrechnung.

Die sogenannten „multichannel retailing“-Strategien ermöglichen es dem Einkaufenden heute, nach Händlern zu suchen, die eine nahtlose Markenerfahrung anbieten, on- und offline. Die aktuelle Auffassung ist, dass diejenigen Händler am erfolgreichsten sind, die die richtige Balance von kombinierten Lösungen haben - also Verkauf sowohl online als auch über Ladengeschäfte, Click&Collect (einkaufen online, abholen im Laden), Apps, elektronische Lösungen im Geschäft – und gleichzeitig einen großartigen Kundenservice bieten. Trotzdem wird die Digitalisierung in diesem Ausmaß hauptsächlich von großen Firmen und neuen Einzelhandels-Unternehmen umgesetzt. Für andere ist der Anpassungsprozess an die sich ständig verändernden Instrumente schwieriger, vor allem für Familienunternehmen oder traditionelle, kleine Geschäfte, die sich weniger auskennen oder kein Interesse für diese Entwicklungen aufbringen.  

FÄHIGKEITEN UND ARBEITSMARKT: Die Digitalisierung im Einzelhandel hat signifikante Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, sowohl was die Anzahl der Angestellten angeht, als auch in Hinsicht auf die geforderten Fähigkeiten. Beim Beschäftigungsbedarf gibt es eine gute Nachricht: für die neuen Einzelhandelsmodelle sind nach wie vor kaufmännische Fähigkeiten gefragt, aber der Fokus weitet sich mit den neuen Formaten und Kanälen auf, vor allem Kenntnisse im elektronischen Bereich werden vermehrt nachgefragt. Zwei von den 19 Millionen Arbeitsstellen im Einzelhandel in Europa kommen direkt oder indirekt über den Online-Handel. Mittelgroße Städte sollten dem deshalb eine besondere Aufmerksamkeit zollen. Denn die Modernisierung des lokalen Einzelhandels-Sektors wird neue (Weiter-)Bildungs-Infrastrukturen und Unterstützungssysteme notwendig machen als eine potentielle Quelle für neue Arbeitskräfte.

Kundenverhalten und -erwartungen

Die sich verändernden Verhaltensmuster der Konsumenten selbst sind ein weiterer Faktor, der die Einzelhandels-Strategie einer Stadt bedingt.

Europäer leben länger und konzentrieren sich immer mehr in den Städten: Während junge Menschen dazu tendieren, in größere Städte zu ziehen, leben in mittelgroßen Städten normalerweise mehr Rentner und ältere Arbeitnehmer, mit einem höheren Anteil an Schulkindern. Das wirkt sich direkt auf das Konsumenten- und Einkaufsverhalten aus. Ältere Menschen verlangsamen normalerweise das Konsum-Niveau und kaufen weniger. Gleichzeitig brauchen sie kleine Lebensmittelläden in ihrer Nähe. Junge Erwachsene achten beim Einkaufen auf Einfachheit und Komfort, damit sie mehr Zeit für Familie und Gemeinschaftsaufgaben haben. Kurz gesagt: „Zum Mitnehmen“ und „sinnvoller Einsatz von Energien“ sind „in“, während „weite Wege“ und „große Kühlschränke“ „out“ sind.

Konsumenten sind heute besser ausgebildet und informiert und zunehmend versiert im Gebrauch digitaler Technologien:

  • Sie haben eine größere Erwartungshaltung, wenn es darum geht, schnell und leicht an Informationen zu gelangen
  • Umweltschutz und soziale Belange sind ihnen ein Anliegen. Weil sie besser ausgebildet und vernetzt sind, sind sie gleichzeitig auch in der Lage, mehr Verantwortung und Rechenschaft von denen zu fordern, von denen sie kaufen.
  • Sie zeigen genauso viel Interesse an der Einkaufs-Erfahrung wie am Produkt selbst
  • Sie fordern den optimalen Mix zwischen Produkt und Service.

 

Was Städte sich bewusst machen müssen

Mittelgroße Städte müssen sich auf einem hochgradig internationalisierten und umkämpften Markt behaupten. Es gibt immer weniger Geschäfte in mittelgroßen Städten und es sieht danach aus, als würden die alten Ladenzahlen auch nie wieder erreicht werden. Dies liegt an einer negativen Kombination aus folgenden Faktoren:

  • Neuen Kundenvorlieben
  • Überholtes Einzelhandelsangebot
  • Einkaufszentren, sowohl auf der grünen Wiese als auch in den Innenstädten
  • Attraktives Freizeit- und Einkaufsangebot größerer Städte

Die Stadt und die Akteure aus dem Einzelhandel müssen das neue Konsumentenverhalten und die neuen Vorlieben verstehen und anerkennen. Die Altersstruktur im Bezirk, potentielle Einzelhandels-Attraktionen vor Ort, der Tourismus-Faktor – all das fordert eine Anpassung der Läden an die Interessen der Anwohner und Besucher. Gleichzeitig ist eine angemessene Mischung an Geschäften notwendig, bei der jeder Kunden das richtige Produkt auf die richtige Weise und zum richtigen Preis findet. Vor einem solchen Hintergrund müssen die Einzelhändler sich die Motivationen hinter dem Einkaufsverhalten klarmachen und auf die Kundenbedürfnisse eingehen.

Schlüsselaufgaben, mit denen sich RetaiLink auseinandersetzt

RetaiLink untersucht einige Lösungsansätze, die nun erklärt werden sollen, immer auf Basis einer Kundenanalyse: Es gibt viele, immer kreativere Ansätze, um den Einzelhandel anzukurbeln. Dazu zählen attraktive kulturelle Angebote rund um den Einzelhandel, Straßenfeste, Rallys, Wettbewerbe, Kinder-Spektakel verbunden mit Ladenöffnungszeiten, digitale Angebote oder Apps für einzelne Stadtteile, mit denen man virtuelle Touren durch das Einkaufsangebot des Viertels machen kann, Attraktionen und öffentliche Veranstaltungen, bei denen die Anwohner einbezogen werden, Kunst, Konzerte oder Sportwettkämpfe. Besondere Angebote wie offenes W-LAN und Standort-Bestimmung können in Abstimmung mit dem Einzelhandel ermöglicht werden. Die Möglichkeiten für Innovation sind auch in mittelgroßen Städten groß.

Die Partner des RetaiLink-Netzwerks sind sich bewusst, dass es nicht EINEN Ansatz gibt, mit dem man den Einzelhandel in Städten revitalisieren kann. Das Netzwerk erkennt aber an, dass eine kluge Verknüpfung von verschiedenen Sichtweisen, Interessen und Expertisen im Einzelhandel und benachbarten Bereichen positiv dazu beiträgt, eine umfassende und erfolgreiche Einzelhandels-Strategie für eine Stadt zu erarbeiten. Da Städte heute gefordert sind, über individuelle und top-down-Maßnahmen hinaus zu denken, ruft RetaiLink umfassende bottom-up Ansätze auf, bei denen alle wichtigen Parteien beteiligt werden und viele verschiedene Akteure aus dem Einzelhandelsbereich in den Lokalen URBACT Arbeitsgruppen zusammenkommen. Diese AGs setzen sich vor allem zusammen aus dem öffentlichen Sektor, Privat- und Immobilienunternehmern, Akteuren aus dem Kultur- und Kreativbereich sowie Vertretern der Länder und des Bundes.

Die Partner erarbeiten integrierte Aktionspläne, die alle Dimensionen für eine erfolgreiche Einzelhandelsentwicklung beinhalten, wie zum Beispiel Konsum-Trends, Vorschriften, Arbeitsplätze, Stadtplanung, Koordinierung öffentlicher Räume, Mobilität, Kultur- und Kreativindustrie sowie Bürgerbeteiligung. RetaiLink unterstützt den Austausch der Partner und das Lernen voneinander im Bereich verschiedener Themen:

VORSCHRIFTEN: In jedem Mitgliedstaat werden die Vorschriften auf anderen Verwaltungsebenen gemacht und alle unterscheiden sich voneinander. So liegt z. B. die Entscheidung zu Ladenöffnungszeiten am Sonntag bei den einzelnen Mitgliedstaaten.

STEUERN: Steuervorschriften können, genauso wie der Grad der Dezentralisierung, den Spielraum der Gemeinden zur Revitalisierung ihrer Geschäfte beträchtlich beeinflussen.

STADTPLANUNG: Auch Planungsvorschriften auf nationaler und kommunaler Ebene beeinflussen den Einzelhandel: Öffnungszeiten, Gewerbegebiete, Typ der Geschäfte in den verschiedenen Stadtbereichen, Flächennutzung, Mobilität etc. Besonders delikat ist dieser Punkt bei der kommunalen Genehmigung von Handelsansiedlungen außerhalb der Stadt. Dazu gibt es eine EU-weite Kontroverse, bei der sich Liberalisierung und lokale Befindlichkeiten zur Marktbalance gegenüberstehen.

WETTBEWERBSFÄHIGKEIT VON KLEINEN UND MITTLEREN UNTERNEHMEN: Training und betriebliche Weiterbildungen, Ideenwerkstätten für Unternehmen und Handel oder kreatives Unternehmertum sind Kompetenzen, denen Kommunen zustimmen und die sie umsetzen können, als Teil ihrer Stadtentwicklungspolitik um den Sektor wiederzubeleben.

QUERVERBINDUNGEN: Es gibt einige EU-Direktiven zu Belangen wie Abfallwirtschaft, Umweltschutz oder ethischen Produktionsstandards, die Einzelhändler egal welcher Größenordnung beachten müssen. Insbesondere relevant sind die EU-Verordnungen zum Umweltschutz wie die Verordnung zur Rückgewinnung von Elektro- und Elektronik-Altgeräten, die EU-Gesundheits- und Sicherheitsverordnungen und der Verbraucherschutz.

Warum eine Einzelhandels-Strategie für alle Städte wichtig ist

  • Handelsaktivitäten generieren Unternehmen, Mehrwert und Arbeitsplätze, was in der nationalen und der kommunalen Wirtschaft stark ins Gewicht fällt. Es ist zwar schwierig, einen exakten Multiplikator-Effekt zu berechnen, aber Schätzungen zufolge sind ein Viertel aller Arbeitsstellen vom Einzel- oder Großhandel abhängig.
  • Handel sorgt auch für Steuereinnahmen. Wie hoch die Steuereinnahmen vor Ort sind, ist von Land zu Land unterschiedlich. Normalerweise handelt es sich hauptsächlich um Grundsteuer, Gewerbesteuer, Mehrwertsteuer oder Einkommenssteuer.
  • Der Einzelhandels-Bereich hat eine starke Hebelwirkung auf die Wertschöpfungskette, da er die Kundennachfrage nach Produkten anderer Unternehmen und Dienstleistungen befeuert. So kreiert die Branche positive Folgewirkungen, z. B. im Gastronomie-Bereich.
  • Schließlich profitieren Fußgängerzonen oder Ladenzeilen von Kultur- und Freizeitprogrammen. Straßenumzüge, Festivals und Open-Air-Veranstaltungen stärken die Identität und den Gemeinsinn im Quartier. In so einer Atmosphäre des gemeinsamen Verantwortungsgefühls lassen sich Ladenbesitzer gerne nieder.

Erkenntnisse des RetaiLink-Netzwerks

Die Wirtschaft und die soziale Entwicklung der europäischen Städte ist eng verknüpft mit den Veränderungen, die der Einzelhandel gerade durchläuft. Der Einzelhandel wird als Schlüsselfaktor in der Gesamtwirtschaft und Sozialentwicklung einer Stadt angesehen. In der Wertschöpfungskette ist er der Sektor, der „nah dran“ ist an Einwohnern und Konsumenten. Das heißt, dass Städte, denen es gelingt, ein breit gefächertes Einzelhandels-Angebot mit dem Wohlbefinden ihrer Einwohner zu verbinden, ihre Bevölkerung davon abhalten können, in größere Städte zu ziehen.

Hochgradig international, ist der Einzelhandelssektor den gleichen globalen Veränderungen und Trends ausgesetzt, die sich generell auf die Städte auswirken. In Zeiten des wirtschaftlichen Abschwungs haben die meisten europäischen Städte einen starken Rückgang des Einzelhandels hinnehmen müssen, verbunden mit Leerstand, dem Verlust kurzer, fußläufiger Wege und weniger Arbeitsplätzen. Das ist vor allem in mittelgroßen Städten der Fall. RetaiLink möchte die Partnergemeinden und -städte dabei unterstützen, ihre lokalen Einzelhandels-Modelle zu überdenken um eine attraktivere Einkaufserfahrung zu ermöglichen.

Zum englischen Originalartikel von Anna Suarez.