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Aufruf an aufnahmebereite Städte: Bringt euch ein!

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07 August 2018
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Laura Colini zeigt in ihrem Artikel anhand der Migrationspolitik in Italien, welche Rolle Städte und Kommunen bei der Verteidigung internationalen Rechts und europäischer Kooperation gegen nationale Alleingänge einnehmen können. Die Autorin ruft die Bürgermeisterinnen und Bürgermeister Europas dazu auf, sich ungeachtet ihrer formalen (nicht-)Zuständigkeiten in die Debatte einzubringen.

Internationales Recht und Abkommen werden ignoriert

Auf Anordnung der Leitstelle zur Koordination der Seenotrettung (MRCC) in Italiens Hauptstadt wurde der Aquarius das Anlegen in an einem „sicheren Ort“ (siehe hier, S. 9) verwehrt. Zu diesem Zeitpunkt hatte das von SOS Méditerranée und Ärzte ohne Grenzen gemeinsam betriebene Rettungsschiff 629 Menschen an Bord – davon 123 unbegleitete Minderjährige, elf weitere Kinder und sieben schwangere Frauen.

Die nächstgelegenen Häfen befanden sich entlang der italienischen Küste, doch der frisch gewählte, rechtspopulistische Innenminister Matteo Salvini erklärte kurzerhand alle möglichen italienischen Anlaufstellen der Aquarius für geschlossen. Mitgetragen wurde diese Entscheidung, die geltendes internationales Recht und Abkommen ignoriert, vom italienischen Infrastrukturministerium. Nach ihrer lebensbedrohlichen Fahrt über das Mittelmeer waren die Menschen auf der Aquarius also weiterhin den Risiken sowie den psychischen und physischen Belastungen auf offener See ausgesetzt, ohne Rücksicht auf ihre Würde, Sicherheit, medizinische Versorgung, Hygiene oder Privatsphäre auf dem überfüllten Schiff.

Ein Ende des ziellosen Umhertreibens gab es erst, als Spanien die Aquarius nach weiteren 1000 Kilometern Fahrt einlaufen ließ. Die Absurdität dieser Situation wurde besonders klar, als die Aquarius kurz vor der italienischen Küste gezwungen war, abzuwarten. Währenddessen ließ die italienische Küstenwache in Catania ein Schiff mit Geflüchteten an Bord einlaufen. Zur gleichen Zeit rettete ein US-amerikanisches Marineschiff vor der lybischen Küste 41 Personen, die mit einem Gummiboot gekentert waren. Zwölf Passagiere konnten nur noch tot geborgen werden, da nicht genügend Rettungsboote zur Verfügung standen, um die Menschen an Bord des größeren Schiffes zu holen.

Letztlich hat die italienische Regierung illegalerweise und ungeachtet internationaler Normen ihre Häfen für humanitäre Rettungsboote geschlossen. Diese Entscheidung fand Applaus bei einigen fremdenfeindlichen Stimmen. Gleichzeitig wurde sie aber auch von vielen Protesten und Demonstrationen begleitet, wie zum Beispiel in Rom, Palermo, Brescia, Messina oder Mailand.

Diese Geschehnisse haben eine systemische Tragweite und Auswirkungen, die weit über diesen Blogartikel hinaus ihren Widerhall finden. Sie sind das Resultat eines politischen Scheiterns in Europa und zeigen, dass politische Führungskräfte dringend handeln müssen. Es braucht eine Rückbesinnung auf die zentrale Bedeutung von internationalen Rechten und Pflichten in der Asylpolitik sowie der Kooperation zwischen EU-Mitgliedstaaten.

Bürgermeister, bringt euch ein

Da dies globale Themen sind, haben Städte und Kommunen auf den ersten Blick wenig gestalterischen Handlungsspielraum. Letztlich sind sie es aber, die in Sachen sichere Unterbringung und Integration einen Löwenanteil der Arbeit leisten. Daher hat die beschämende Weigerung, die Aquarius in italienische Häfen einlaufen zu lassen, auch für Widerstand unter prominenten italienischen Bürgermeistern gesorgt. Öffentlich stellen sie sich gegen die italienische Regierung und sprechen dabei für eine Mehrheit der Städte Süditaliens:

Leoluca Orlando, Bürgermeister von Palermo

„Ich bin bereit, alle Schiffe aufzunehmen, die Menschenleben retten. Palermo, die Stadt, die aufgrund ihres Namens schon „ein einziger Hafen“ ist, war seit je her bereit, sowohl zivile als auch militärische Schiffe willkommen zu heißen, die auf dem Mittelmeer Leben retten. Diese Schiffe und ihre Besatzung respektieren internationales und maritimes Recht und verhindern den Tod von Männern, Frauen und Kindern, die mancher anscheinend lieber in die Hände von Kriminellen geben will. Der italienische Innenminister verletzt dagegen internationales Recht, indem er seine Pflicht vernachlässigt, Leben zu retten, und zeigt dabei das wahre Gesicht seiner rechts extremen Lega Nord. Palermo ist rassistisch, denn wir denken, dass es nur eine Rasse gibt: die menschliche! Wer das nicht versteht, ist ein Naziverbrecher. Sollte die Regierung ihr Verhalten nicht ändern, werden wir sie weiter verurteilen. Palermo ist bereit, alle Schiffe aufzunehmen, die Leben retten.“

Renato Accorinti, scheidender Bürgermeister von Messina und Mitglied des URBACT Arrival Cities Network

„Ich bin sowohl aus menschlicher als auch aus rechtlicher Sicht schockiert. Wir dürfen nicht die universellen Menschenrechte und die Schifffahrtsfreiheit vergessen, nach der jeder Mensch eine zu achtende Würde besitzt, unabhängig von seiner Hautfarbe oder seiner Herkunft. Es ist die oberste Pflicht eines Bürgers, Menschen willkommen zu heißen. Auf eine inhumane Politik antworten wir mit einer Politik, die auf Menschenrechten und Werten fußt. Daher erklären wir auch ungeachtet der Anweisungen von Minister Salvini unsere sofortige Aufnahmebereitschaft, sodass die Aquarius in unserem Stadthafen anlegen kann.“

 

Luigi de Magistris, Bürgermeister von Neapel

„Wenn ein herzloser Minister schwangere Frauen, Kinder und alte Menschen auf dem Mittelmeer sterben lässt, dann ist Neapels Hafen bereit, sie willkommen zu heißen. Wir sind Menschen mit großem Herz. Neapel ist auch ohne finanzielle Unterstützung bereit, Leben zu retten. Salvini hat eine brutale Entscheidung getroffen, die sich gegen alle nationalen und internationalen Gesetze stellt. In gleicher Weise erscheint uns auch die fragwürdige Entscheidung der maltesischen Regierung als falsch. Gegen diese brutalen Entscheidungen und gegen das bloße Weitergeben von Verantwortung, das Menschenleben gefährdet, bezieht Neapel als solidarische Stadt klar Position: Lasst uns unseren Seehafen öffnen, lasst uns sofortige Hilfe und Unterstützung organisieren. Der Wert des menschlichen Lebens ist für uns weiterhin absolut und unabhängig von der Hautfarbe.“

Giacomo Tranchida, Bürgermeister von Trapani

„Wir sind bereit, die Aquarius aufzunehmen und auch in anderen zukünftigen Notsituation bei der Seenotrettung von Migranten zu helfen. Trapani ist sowohl Tor zum Mittelmeer als auch Tor zu Europa und Salvini wird das nicht ändern. Wir teilen unsere Verantwortung mit anderen Häfen wie in Palermo, wo bereits zugesagt wurde, Schiffe mit Migranten aufzunehmen. Dabei werden wir in enger Zusammenarbeit mit weiteren Akteuren wie der Hafenbehörde unsere Unterstützung anbieten.“

 Rinaldo Melucci, Bürgermeister von Taranto

„Ich bin ohne ‚Wenn und Aber‘ bereit, jeden Menschen in Gefahr aufzunehmen. Auf dem Meer gilt internationales Recht, das nicht einfach durch eine kurze, interne Anweisung verworfen werden kann. Aus politischer Sicht reden wir hier außerdem über Menschenleben, die immer Vorrang vor politischen und regulatorischen Maßnahmen haben. Wir waren schon immer ein Land mit einer ausgeprägten Willkommenskultur und ich kann nicht verstehen, wie man 629 Menschenleben einfach sich selbst überlassen kann.“

Giuseppe Falcomatà, Bürgermeister von Reggio Calabria

„ Wir sind wie immer dazu bereit, Frauen, Männern und Kindern in Not zu helfen. Unsere Herzen sind groß - größer als die, die ohne ein Funken von Menschlichkeit mit ihren Leben spekulieren.“

Können die Stimmen der Städte in der Debatte um die Einhaltung internationalen Rechts und die Rolle europäischer Behörden in der Seenotrettung gehört werden?

http://www.blog.urbact.eu/wp-content/uploads/refugees-welcome-madrid.jpgViele weitere Bürgermeister in ganz Italien (Livorno, Ravenna, Turin, Mailand, Sapri, Augusta und viele mehr) zeigen sich ebenso solidarisch. Trotz dessen sind diese Solidaritätsbekundungen laut Ärzte ohne Grenzen nicht ausreichend, sofern es weiterhin dabei bleibt, dass in der Praxis darauf gewartet wird, dass mit der italienischen Küstenwache eine der Regierung unterstehende Behörde einem Schiff zunächst erlauben muss, in einen Hafen einzulaufen.

 

Die Stimmen der Bürgermeister von Italiens Städten könnten also letztlich wirkungslos verhallen, da ihre Zuständigkeit weit vor den großen Fragen der internationalen Gesetze und Abkommen zwischen Staaten und der Europäischen Union endet. Ein steigendes und sich mehr und mehr institutionalisierendes Engagement der Städte auf europäischer Ebene und in Fragen der Migrationspolitik ist jedoch klar erkennbar. Dieses zeigt sich bei der Partnerschaft „Integration von Migranten und Flüchtlingen“, der Initiative solidarischer Städte EUROCITIES und EU-Programmen wie URBACT mit seinem Arrival Cities-Netzwerk. Zu nennen ist auch das generellen Engagement einzelner großer und kleiner Städte wie Riace, Gent, Barcelona, Danzig, Messina, Palermo, Amsterdam, Athen, Thessaloniki, Vantaa und vielen weiteren. Insgesamt bringen sich Städte also zunehmend und entschlossen über diverse Kanäle in die internationale Debatte ein und stoßen so ein Umdenken und einen Wandel an.

Den Originalartikel in englischer Sprache finden Sie hier.

Fotos aus Original Artikel übernommen. © URBACT - Laura Colini