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„Wir möchten das Spinnbau-Gelände mehr beleben und kulturell aufladen“

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07 August 2017
Read time: 4 minutes

Interview mit Thomas Mehlhorn, Stadt Chemnitz, zum URBACT-Netzwerk „Second Chance“

„Schlafende Riesen wecken“ – das ist das Motto des URBACT-Netzwerkes „Second Chance“. Schwerpunkt der teilnehmenden Städte ist die Revitalisierung von großen innerstädtischen Brachflächen und leerstehenden Gebäuden. Auch Chemnitz mit seiner über 150-jährigen Industriegeschichte ist am Netzwerk beteiligt. Die sächsische Großstadt sucht im Rahmen des Netzwerkes nach langfristigen Nutzungskonzepten für den ehemaligen Spinnereimaschinenbau. Thomas Mehlhorn, Projektkoordinator im Stadtplanungsamt Chemnitz, erzählt im Interview, was die Besonderheit der Liegenschaft ausmacht, welche Herausforderungen und Visionen es gibt und wie Chemnitz vom transnationalen Austausch profitiert.

Welchen „schlafenden Riesen“ möchte die Stadt Chemnitz „wecken“?
Wir konzentrieren uns im Rahmen von Second Chance auf einen sehr großen Fabrikkomplex im Stadtteil Altchemnitz, den ehemaligen Spinnereimaschinenbau, mit rund 47.000 Quadratmetern Gesamtfläche. Mit der Industrialisierung entwickelte sich Chemnitz zum Zentrum der Textilindustrie und des Maschinenbaus. In der DDR war dort ein volkseigener Betrieb angesiedelt, der aber nach der deutschen Einheit umgewandelt und liquidiert wurde. Die Stadt hatte viele Arbeitsplätze und Einwohner durch die Wende und den Wirtschaftswandel verloren. Mittlerweile ist Chemnitz zu einem führenden Forschungs- und Entwicklungsstandort aufgestiegen, der nach wie vor über ein reiches, kulturelles Erbe an Industriebauten verfügt. Heute ist die Stadt in den Branchen Automobil- und Zuliefererindustrie, Informationstechnologie, Maschinen- und Anlagenbau sowie Mikrosystemtechnik aktiv. 

Das Hauptgebäude der Liegenschaft ist denkmalgeschützt. Frühe Teile sind aus den 1920er Jahren, weitere entstanden in den 1950ern und gehören der DDR-Nachkriegsmoderne an. Das Objekt gehört einem Privatinvestor. Das ist im Rahmen des Netzwerkes eine Besonderheit, da alle anderen Projektpartner sich mit Gebäuden in öffentlicher Hand beschäftigen. Die Fabrikanlage liegt im traditionellen Industriestandort Altchemnitz, am Chemnitzfluss, nahe einer Ein- und Ausfallstraße. Die Lage im Stadtgebiet ist gut, allerdings gibt es nur an einer Stelle eine Zufahrt, die ein gewisses Nadelöhr darstellt.

Was soll dort geschehen?
Unser Schwerpunkt im Rahmen der Stadtentwicklung ist es, die Wahrnehmung der Potentiale in Altchemnitz zu erhöhen. Am Altgewerbestandort gibt es viel Leerstand und zahlreiche Brachen. Die Stadt hat ein großes Interesse daran, diese zu revitalisieren und die Orte, wo früher gearbeitet wurde, auch heute wieder in Nutzung bringen. Wir leiten die Entwicklungsabsichten für den Einzelkomplex aus den gebietlichen Strukturen und dem städtebaulichen Kontext ab. Mit der Wiederbelebung des Spinnereimaschinenbaus wollen wir etwas Vorbildhaftes, Übertragbares schaffen und mit Second Chance austesten, ob sich dieses Vorgehen auch für andere Industriebrachen eignet.

Im Moment geht es auch darum, die Interessen der Stadt mit denen des Eigentümers abzugleichen. Der jetzige Eigentümer managt auch seine Liegenschaft und ist Mitglied der URBACT Local Group. Aber ihn treiben natürlich andere Fragen um als uns: Wie kann er Einnahmen generieren, wie das Areal wirtschaftlich betreiben? Die Stadt sieht das Gebäude als Schlüsselliegenschaft im Gebiet und will das Projekt nachhaltig und strategisch angehen. Das Gebäude ist sehr speziell, mit einer offenen Raumstruktur. Momentan setzt der Eigentümer dort überwiegend auf eine Kaltlagernutzung, das macht das Gebäude allerdings nicht sehr lebendig und verbessert nicht wesentlich den Zustand des Bestandes. Mit URBACT sollen alternative Lösungen gefunden werden, mit denen wieder mehr Leben in das ganze Gelände gebracht, der Anteil gemeinschaftlicher Nutzungen erhöht, die schrittweise Sanierung vorangetrieben und insgesamt eine bessere Verknüpfung zu den angrenzenden Quartieren und zur Technischen Universität Chemnitz erreicht werden.

Wer ist sonst noch in Ihre lokale Arbeitsgruppe eingebunden und wie läuft die Arbeit ab?

Neben dem Eigentümer sind das zum Beispiel der Branchenverband der Kultur- und Kreativwirtschaft „Kreatives Chemnitz“ und städtische Vertreter: Das Stadtplanungsamt hat bei dem URBACT-Projekt und dem Vorhaben insgesamt die Federführung inne, die Abteilung Koordination Fördermittel ist dabei, weil Altchemnitz im EFRE-Gebiet liegt, aber es sind auch andere Fachbereiche beteiligt, wie die EU-Stelle oder unsere Wirtschaftsförderung und Entwicklungsgesellschaft. Die Bürgergesellschaft ist auch vertreten, in Person des Koordinators der Bürgerplattform Chemnitz-Mitte. Hinzu kommen ein Stadtrat und die Spinnerei selbst, die die Freifläche des Geländes ja schon als Freiluft- und Musikkulturclub bespielt. Die Konstituierung der Arbeitsgruppe mit zehn festen Mitgliedern ist gut erfolgt; der Rhythmus von zweimonatlichen Treffen funktioniert prima. Allerdings sind die Leute etwas zurückhaltend, wenn es darum geht, am transnationalen Austausch teilzunehmen. Wichtig ist auch die Aufgabenverteilung: Wer macht was, damit es von allen akzeptiert und getragen wird und die erwarteten Resultate gemeinschaftlich produziert werden.

Fangen Sie mit Second Chance bei „null“ an oder wie ist der aktuelle Stand im Spinnereimaschinenbau?
Aktuell sind 40 Prozent der Gebäude auf dem ehemaligen Werkskomplex vermietet und es gibt verschiedene, teils temporäre Nutzungen im Bereich Freizeit, Nachtleben oder Sport. So wurde zum Beispiel 2015 das Kunst- und Kulturfestival „Wolkenkuckucksheim“ ins Leben gerufen, mit verschiedenen Konzerten, Künstlern, Vorführungen, Lesungen, Workshops und Installationen, das auf ein überregionales Publikum setzt. Das Festival 2016 war eine der Aktivitäten, die die Stadt mit URBACT-Mitteln unterstützt hat. Ziel ist es, dass diese kulturelle Infrastruktur weiter wächst. Dieses Jahr findet das Festival zum dritten Mal statt, vom 11. bis 13. August 2017. Die Stadt möchte sich zudem als Chemnitz Europäische Kulturhauptstadt 2025 bewerben. Der Spinnereimaschinenbau soll bis dahin eine kulturstrategische Aufladung erfahren, die vorhandenen Ansätze ausgebaut werden.

Mit welchen konkreten Maßnahmen treiben Sie die Revitalisierung voran?
Neben der Unterstützung von „Wolkenkuckucksheim“ haben wir auch ein großes Interesse an der Zusammenarbeit mit einer Universität. Allerdings konnten Kooperationen, z. B. zur Aufarbeitung der Standortgeschichte und zur Generierung von Nutzungsideen unter Berücksichtigung der Denkmalpflege bislang noch nicht fest etabliert werden. Geplant ist außerdem eine App-Erweiterung: Die Stadtgeographin Katja Manz hat zusammen mit Schülern Material zu verschiedenen industriegeschichtlich bedeutsamen Orten in Chemnitz gesammelt, Informationen eingeholt und Interviews geführt. In der App "Industriegeschichte erleben" kann man diese Orte anklicken und so die Infos vor Ort abrufen: Was war da früher, was ist heute dafür angedacht? Wir denken über eine Weiterentwicklung der App exemplarisch für den Spinnereimaschinenbau nach. Zudem möchten wir mit der Europäischen Route der Industriekultur ERIH zusammenarbeiten.

Im März 2017 hatten wir einen Ideenworkshop mit dem Branchenverband „Kreatives Chemnitz“. Der Eigentümer war auch dabei. Die Stadt wollte sich dadurch einen kreativen Blick auf den Gebäudekomplex abholen, eine Vision. Der Eigentümer agiert eher kurzfristig, wir möchten aber eine gemeinsame Vision erarbeiten, wie man andere Nutzergruppen und Interessenskreise erschließen kann. Wir hatten spannende Diskussionen zur Imagebildung. Für uns ist das auch ein Instrument, um uns mit dem Eigentümer auf eine langfristige Nutzung einigen zu können. Er hatte sein eigenes Entwicklungskonzept in der Vorbereitung für diesen Workshop aktualisiert. Solche Schritte sind wichtig, denn er muss die Ideen mittragen und sich langfristig aufstellen wollen. Der Eigentümer sucht im Austausch vorrangig Fördermöglichkeiten für den Gebäudekomplex. Die Stadt Chemnitz hat als Baustein des lokalen Aktionsplanes eine Förderübersicht zu den Themen Energieeffizienz und Wirtschaftsförderung erstellt.

Abgesehen von den URBACT-Maßnahmen hat die Stadt Chemnitz zudem für den Gewerbestandort Altchemnitz auch ein energetisches Quartierskonzept beauftragt. Der städtische Energieversorger eins energie in sachsen GmbH und Co. KG leitet das Projekt. Ziel ist eine Erhöhung der Energieeffizienz, die Entwicklung langfristiger Szenarien für Altchemnitz und ein energetischer Handlungsleitfaden für die Akteure im Gebiet. An der Erstellung beteiligt sich der Eigentümer des Spinnereimaschinenbaus.

Wie läuft der transnationale Austausch im Projekt bislang ab?
Bislang waren wir bei vier großen Netzwerktreffen in der Projektphase 2 dabei: In Liverpool, als Gastgeber in Chemnitz, in Porto und in Gijon. In Liverpool ist das Zielobjekt ein ehemaliger Ballsaal - die „Wellington Rooms“. Wir mussten Sicherheitskleidung tragen, um das zu besichtigen, alles ist in sehr schlechtem Zustand. Die Engländer sind sehr stark in der Anwendung von Finanzinstrumenten insbesondere Rechenmodellen für Nachnutzungsoptionen, so genannten „Costed Options Appraisals“- Damit kann man kalkulieren, inwieweit sich eine Wirtschaftlichkeit für die Nutzungsvarianten abzeichnet. Dieses Modell haben sie auch den anderen Partnern zur Verfügung gestellt. Darin kann man dann sehen: Was sind die Sanierungskosten, was bleibt offen, wo muss ich andere Gelder akquirieren, wie viel Wertzuwachs erziele ich.

Zum Besuch der Partner bei uns in Chemnitz haben wir gute Rückmeldungen von den Teilnehmern bekommen. Am ersten Tag tagten wir im Zielobjekt des Projektes, dem Spinnereimaschinenbau. Den zweiten Tag verbrachten wir in einem bereits erfolgreich wiederbelebten großen Industrie- und Gewerbekomplex - der Schönherrfabrik. Diese wurde in bisher acht von neun Abschnitten in den letzten 15 Jahren umfangreich saniert, heute sitzen dort 130 Unternehmen mit über 1.300 Mitarbeitern.

 

 

Second Chance – Waking up the Sleeping Giants

Lead Experte: Nils Scheffler
Lead Partner: Neapel, Italien

Weitere Partner:
• Dubrovnik, Kroatien
• Maribor, Slowenien
• Lublin, Polen
• Chemnitz, Deutschland
• Brüssel, Belgien
• Caen, Frankreich
• Liverpool, Großbritannien
• Gijon, Spanien
• Porto, Portugal
• Genua, Italien

Bildnachweis
1) Titelfoto: Spinnereimaschinenbau (Foto: Stadt Chemnitz)
2) Diskussion Image/ Vision ULG 2017 (Foto: Robert Verch)
3) Netzwerktreffen Chemnitz 2016 (Foto: Kristin Schmidt)